Beschleunigung, Stress, Orientierungslosigkeit und ein zunehmender Konsum-Burn-Out charakterisieren den Normalzustand moderner „Bequemokratien“. Während des letzten Jahrzehnts hat sich die Menge an Antidepressiva-Verschreibungen in Deutschland verdoppelt.
Kein Wunder: Unser Leben ist vollgepfropft mit Produkten, DienstleistungenFinden Sie den perfekten Job für Sie!, Mobilität, Ereignissen und Kommunikationstechnologien. Es fehlt die Zeit, dies alles so „abzuarbeiten“, dass es einen spürbaren Nutzen erzeugt.
Damit nämlich Konsumaktivitäten überhaupt Glücksgefühle verursachen oder die Zufriedenheit steigern können, muss ihnen ein Minimum an Aufmerksamkeit gewidmet werden. Und das geht nicht, ohne eigene Zeit zu investieren, denn Empfindungen lassen sich weder automatisieren noch an jemanden delegieren. Sie erfordert eigene Wahrnehmung.
Die hierzu unabdingbare Zeit ist die knappste Ressource, über die wir verfügen. Trotz aller Fortschrittsorgien und technischer Effizienz, durch die wir glauben, jegliche für uns wichtigen Vorgänge beschleunigen zu können, ist Zeit nicht vermehrbar, sondern nach jeder Verwendung unwiederbringlich verloren.
Knappheit an individueller Zeit durch „menschliches Multitasking“ zu überlisten – also verschiedene Dinge gleichzeitig zu verrichten -, bleibt eine Illusion. Neurologen konnten längst beweisen, dass wir uns bestenfalls auf zwei Dinge gleichzeitig konzentrieren können (Der Konsumzombie).
Der Konsumwohlstand wird zur Strapaze
Da der Tag nach wie vor nur 24 Stunden hat, die Anzahl, der Dinge und Erlebnisse, die wir uns durch Konsum, entgrenzte Mobilität oder digitale Vernetzung aneignen können, jedoch geradezu explodiert, konkurrieren diese Aktivitäten und Objekte um die knappe, nicht vermehrbare Aufmerksamkeit.
Folglich wird jeder Sache und Handlung eine zusehends geringere durchschnittliche Zeitdosis zuteil. Gleichzeitig sitzt uns die Angst im Nacken, etwas zu versäumen, wenn wir uns zu lange mit einer Handlung aufhalten.
So wird Mobilitäts- und Konsumwohlstand zur Strapaze, erst recht wenn wir überall mit neuen Optionen konfrontiert werden, die zeitaufwändig zur Kenntnis genommen und über die entschieden werden muss.
Die Freiheit, sich zwischen möglichst vielen Möglichkeiten entscheiden zu können, gilt als Inbegriff modernen Fortschritts – was aber, wenn daraus stressiger Entscheidungszwang wird? Sogar die Entscheidung, etwas nicht in Anspruch zu nehmen, ist in einer reizüberfluteten Sphäre zeitraubend (Konsum: So viel Sklaverei steckt in unseren Produkten).
Das Hamsterrad der käuflichen Selbstverwirklichung
Hilfe verspricht allein die Rückkehr zum „menschlichen Maß“. So drückte sich seinerzeit Friedrich Ernst Schumacher, der Autor von „Small is beautiful“, aus. In diesem Fall hieße das, sich auf eine überschaubare Anzahl von Optionen zu konzentrieren, sodass die knappe menschliche Aufmerksamkeit reicht, um diese Dinge lustvoll genießen zu können.
Wer einen Teil des ausufernden Konsum- und Mobilitätsballastes abwirft, ist davor geschützt, im Hamsterrad der käuflichen Selbstverwirklichung orientierungslos zu werden (Druck in der Erziehung: Kinder, gefangen im Hamsterrad). Die Befähigung zum eleganten und Glück stiftenden Konsumieren bestünde also darin, sich jenes Wohlstandsschrottes zu entledigen, der nur unser Leben verstopft.
Elegante Genügsamkeit konfrontiert die verzweifelte Suche nach weiteren Steigerungen von Güterbesitz und Bequemlichkeit mit einer simplen Gegenfrage: Von welchen Energiesklaven, Konsum- und Komfortkrücken ließen sich überbordende Lebensstile und schließlich die gesamte Gesellschaft befreien? (Konsumhunger frisst Wald: Wie geht es unserem Wald wirklich)
Die Kunst des Reduzierens
Wer in materieller Opulenz zu versinken droht, verzichtet nicht, wenn er oder sie sich auf das Wichtige beschränkt, sondern befreit sich von Überflüssigem. Klug jene Lasten abzulegen, die viel Zeit fressen, aber nur minimalen Nutzen stiften, optimiert den Wert der dann verbleibenden Objekte, die dann umso stressfreier, also ergiebiger genossen werden können.
In der Kunst des Reduzierens liegt ein Schlüssel zur wahren Wertschätzung der Dinge, die uns umgeben. Wenn der Effekt, den eine Sache oder eine Handlung bei uns auslöst, von der Zeit abhängt, die wir ihr widmen – denn nur so können wir uns in deren Eigenschaften versenken und ihren Nutzen überhaupt wahrnehmen -, eröffnet sich eine neue ökonomische Perspektive, die uns erkennen lässt, was zu einem gelungene Leben beitragen könnte.
Nicht der Preis, nicht der materielle Gehalt oder die innovativen Eigenschaften einer Ware bestimmen den Wert, welchen sie uns gegenüber offenbaren, sondern die Aufmerksamkeit und folglich das Quantum an individueller Zeit, die wir bereit und fähig sind, ihr zu widmen. Es entspricht überkommenem ökonomischem Denken, dass einer Sache oder Handlung per se ein Wert innewohnt.
Die wertstiftende oder -schöpfende Wirkung einer Sache setzt voraus, dass ihre Wahrnehmung oder Handhabung eine Qualität aufweist, die außerhalb ihrer selbst liegt, nämlich vom Betrachter und Nutzer selbst aufzubringen ist. Damit wird jede Betrachtung, jede Verwendung und jeder Konsum zu einer virtuosen Handlung. Wer einem einzelnen Objekt oder Erlebnis mehr Sinnstiftung zu entringen vermag, lebt genügsamer.
Selbstbegrenzung und Lebensqualität bilden also keinen Widerspruch – ganz im Gegenteil.
Wer ständig auf der Flucht davor ist, mit den vorhandenen Möglichkeiten keinen Frieden schließen zu können, flieht nur vor sich selbst (Gesellschaft: Ich! Ich! Ich!).
Literatur:
Alphabet – Angst oder Liebe? (OmU)
Verdummt noch mal! Dumbing us down: Der unsichtbare Lehrplan oder Was Kinder in der Schule wirklich lernen von John Taylor Gatto
Wie man Kinderbilder nicht betrachten soll von Arno Stern
Quellen: PublicDomain/huffingtonpost.de am 11.08.2016
Weitere Artikel:
Konsumhunger frisst Wald: Wie geht es unserem Wald wirklich
Konsum: So viel Sklaverei steckt in unseren Produkten
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