Wenn man in London lebt, ist es nicht gerade einfach, seinen Wohnort zu lieben. Das liegt daran, dass man hier beim Wort „Zuhause“ mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zuerst an die unglaublich hohen Verwaltungsgebühren und Mieten denkt. Oder an die Mitbewohner, die ständig so gelbe Reste auf dem gemeinsamen Geschirr hinterlassen. Oder an den Lifestyle, von dem man sich wohl niemals loslösen kann.
Das war jedoch nicht immer so. Weißt du noch, wie du zum ersten Mal in eine eigene Wohnung gezogen bist? Damals hast du noch dein schrottiges IKEA-Regal im Schweiße deines Angesichts zusammengebaut, irgendwelche „Kunst“ an die Wände gehängt und dann deinen gesamten Freundeskreis auf ein paar Einweihungsdrinks eingeladen. Dir war noch nicht alles egal. Diese Zeiten sind jedoch vorbei und muten nur noch wie eine fast schon komplett verblasste Erinnerung an.
Nein, jetzt bist du abgehärtet und hast die Schnauze voll von dieser Welt, oder?
Nun, auf mich trifft das nicht zu, denn vor fünf Monaten bin ich in eine Gartenlaube gezogen. Ja, eine richtige Gartenlaube, in der sich sonst nur Rasenmäher und Heckenscheren die Klinke in die Hand geben. Und es hätte für mich nicht besser kommen können.
Mir war gesagt worden, dass man die Miete für mein Einzimmer-Apartment erhöhen müsste, und da ich mich sowieso schon nur noch von Toast und Ketchup ernährte, blieb mir quasi gar nichts anderes mehr übrig, als auszuziehen. Irgendwann stieß ich dann auf eine Online-Anzeige, in der ein „Chalet“ angepriesen wurde. Da das für mich erstmal ziemlich luxuriös klang, machte ich direkt für den darauffolgenden Tag einen Besichtigungstermin aus.
Ich wurde von einem freundlichen Typen begrüßt und durch einen langen Garten bis zu einem düsteren Gebilde geführt. Bei diesem Gebilde handelte es sich jedoch nicht um ein Chalet oder um eine luxuriöse Holzhütte, sondern einfach nur um eine Gartenlaube—inklusive Türen, die sich auch durch starkes Husten öffnen lassen, Plexiglas-Fenstern und ranzigen Steckdosen. Es war Liebe auf den ersten Blick.
Das soll jetzt allerdings nicht heißen, dass ich von jeglichen Startschwierigkeiten verschont wurde: Als ich in mein neues Domizil einzog, rutschte ich direkt auf dem Pfad dorthin aus, humpelte anschließend mit blutigem Knie unter eine abwechselnd eiskalte und siedend heiße Dusche und fiel letztendlich ins Bett, wo ich die darauffolgenden Stunden damit verbrachte, den sich in meinen Deckenlichtern ansammelnden Regen zu beobachten und zu hoffen, nicht in einem Feuer zu sterben.
Irgendwann schlief ich aber trotzdem ein und genau das ist Liebe — eine Liebe, die man nicht mit einem Preisschild versehen kann.
OK, eigentlich kann man das schon: alles in allem 850 Pfund [gut 1070 Euro] pro Monat. Ich denke mal, dass solche Zahlen auch der Grund dafür sind, warum die Beziehung zwischen Londoner Mietern und Holzverschlägen ein solches Tabu geworden ist. Mit Horrorgeschichten von Leuten, die einen solchen Holzverschlag in ihrem Wohnzimmer aufstellen und dann für unverschämt viel Geld vermieten, wurde diese Art des Wohnens zum Symbol der ganzen abgefuckten Mietkultur der englischen Hauptstadt.
Lass dir aber eine Sache gesagt sein: In einer Gartenlaube zu wohnen, ist garantiert keine schlechte Sache. Und ich erkläre dir jetzt, warum das so ist (Selbstversorgung: Australierin lebt seit 30 Jahren unabhängig vom Versorgungsnetz (Video)).
Ich habe weder Nachbarn noch Mitbewohner
Du kennst doch bestimmt diese Tage, an denen du aufwachst und überhaupt keinen Bock darauf hast, dich ordentlich anzuziehen, irgendjemandem über den Weg zu laufen oder auch nur ein Wort zu reden, oder?
An genau diesen Tagen bist du dann auch unendlich dankbar dafür, dass man inzwischen mit nur wenigen Klicks und ohne viel Mühe Pizza bestellen kann. Auch ich habe manchmal solche Tage, aber bei mir funkt dann kein Mitbewohner dazwischen, der zu irgendeinem YouTube-Fitnessprogramm durch sein Zimmer stampft.
An den meisten Tagen treffe ich auf keine Menschenseele und deshalb muss ich mich auch nicht in Schale werfen. Je nach meinem Gusto ist es hier entweder laut oder leise. Im Grunde könnte ich quasi nackt und schreiend im „People’s Elbow“-Style von einer Wand zur anderen rennen und niemanden würde eine WG-Diskussionsrunde einberufen.
In Bezug auf Besucher bin ich aber leider auch machtlos.
Videos:
Ich bin eins mit der Natur
OK, ich habe gerade geschrieben, dass ich keine Nachbarn habe, aber das stimmt so eigentlich gar nicht. Seit meinem Einzug führe ich eine Art Beziehung mit einer Fuchsfamilie. Im Grunde liest sich mein Twitter-Feed wie ein urbanes Tagebuch eines naturliebenden Abenteurers: Anfangs teilte ich der Welt noch mit, dass ich ein solches Tier auf meinem Dach entdeckt hätte, und vor Kurzem fragte ich in die Twitter-Runde, wie man es schafft, in Ruhe ein Interview zu transkribieren, während es zwei Füchse unter den Bodendielen treiben.
Nun, letzte Woche hat sich dieses Schäferstündchen endlich ausgezahlt:
Direkt unter meinem Schreibtisch leben nun sechs Fuchskinder mit ihrer doch etwas zerzaust aussehenden Fuchsmama. Ich bekomme immer mit, wenn die Tiere unter meinem Boden herumwuseln und niesen.
Außerdem kann ich die Mutter immer dabei beobachten, wie sie übergroße Baguettes zum Mittagessen heranbringt. Dazu bin ich jedes Mal quasi live dabei, wenn die Jungen mal von unter meinem Zuhause hervorkommen und etwas Neues dazulernen. Heute haben sie beispielsweise zum ersten Mal Eichhörnchen erblickt und direkt eine Scheißangst gehabt.
Meiner Meinung nach ermöglicht mir diese Nähe zur Natur eine einzigartige Sichtweise, die es so in London wohl nur selten gibt. Ich meine, ich kann manchmal morgens dabei zusehen, wie eine Taube Stück für Stück von einem Falken auseinandergenommen wird, und Rotkehlchen bauen sich Nester aus den alten Haaren in meiner Bürste. Ich glaube, dass mich diese Lage mitten in unserem Ökosystem davor bewahrt hat, wie viele andere Stadtmenschen in die Einsamkeit zu verfallen und den Bezug zur Natur zu verlieren (Alternatives Leben: Wie ein Obdachlosen-Dorf zum Nachhaltigkeits-Vorbild wird (Video)).
(Familie Fuchs vor der Laube des Autors)
Es ist eine Gartenlaube
Gut, die Leute im Haupthaus platzen jetzt nicht um 10 Uhr morgens bei mir rein, um einen Schraubendreher zu holen, aber es handelt sich immer noch um eine Gartenlaube. In anderen Worten: Eine unattraktive und kleine Behausung, die wohl niemand als eine schlaue Investitionsmöglichkeit ansieht. Und genau deswegen herrscht hier eine gewisse Atmosphäre der Beständigkeit und Zugehörigkeit.
OK, 850 Pfund im Monat muten vielleicht schon ziemlich verrückt an, aber so zahle ich immer noch 400 Pfund weniger als in der Wohnung, in der ich vorher gewohnt habe. Und hier kann ich auch mal einen Nagel in die Wand schlagen, ohne das mein Vermieter gleich auf der Matte steht und mir auf die Mütze gibt.
Die Füchse werden irgendwann groß sein und in die weite Welt hinausziehen. Du wirst irgendwann aus deiner Wohnung gedrängt werden, wenn die Mieten weiter steigen oder dein Vermieter plötzlich Eigenbedarf anmeldet. London wird sich verändern. Ich werde jedoch weiterhin hier in meiner Gartenlaube sein—die einzig wahre Konstante in dieser schnelllebigen Welt.
Literatur:
Die besten Einfamilienhäuser aus Holz von Wolfgang Bachmann
Kleine Häuser – große Wohnarchitektur: Die Besten der Besten. Häuser Award von Bettina Hintze
Der eigene Naturkeller von Mike & Nancy Bubel
Das Ende der Großen: Zurück zum menschlichen Mass von Leopold Kohr
Quellen: PublicDomain/vice.com am 04.05.2016
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