Das Freihandelsabkommen TTIP gilt als Symbol des ungezügelten Kapitalismus. Interview mit Ökonom Max Otte darüber, ob die Ängste tatsächlich berechtigt sind.
Bundeskanzlerin Merkel unterstützt TTIP, wie sie sagt, weil es nicht allein ein wirtschaftlich motiviertes Abkommen sei, sondern sich erstmals die Chance ergebe, europäische Werte wie Menschen- und Verbraucherrechte international zu verankern. Teilen Sie die Haltung der Kanzlerin?
Max Otte: Überhaupt nicht! Das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir europäische Werte vertreten würden, müssten wir konsequent die Manager von Google, Microsoft, Apple und Facebook verhaften, wenn diese mal in Europa sind – genauso, wie die Amerikaner Schweizer Bankmanager verhaftet haben. All diese Unternehmen brechen europäische Datenschutzbestimmungen.
Mit TTIP wird die Waffenungleichheit noch viel größer. Es geht darum, wer die Spielregeln macht. Dadurch, dass Normen und Standards gegenseitig anerkannt werden, werden sich die in den meisten Fällen niedrigeren amerikanischen Standards durchsetzen. Einer sehr geschlossen agierenden amerikanischen Handelspolitik hat ein zersplittertes Europa dann nichts mehr entgegenzusetzen.
Geht es um Kritik am geplanten TTIP-Abkommen, ist schnell die Rede von den privaten Schiedsgerichten. Sowohl die EU als auch die USA sind zwei Wirtschaftsräume mit funktionierendem Rechtssystem. Wofür brauchen wir da überhaupt private Schiedsgerichte?
Max Otte: Natürlich brauchen wir sie nicht, zumindest nicht in dieser Konstellation. Die „Investitionsschutzabkommen“ waren ursprünglich für Staaten mit unterentwickelten Rechtssystemen gedacht. Nun wird das alles umgedreht: Konzerne können Staaten verklagen, wenn sie aufgrund der Politik dieser Staaten wirtschaftliche Nachteile erleiden. Natürlich kosten politische Maßnahmen oft etwas. Es ist der Sinn politischer Aktivität. Unternehmen haben sich daran anzupassen. Die Schiedsgerichte im Zusammenhang mit dem Investitionsschutz bedeuten die völlige Entmachtung der Politik (Geplante Auflösung staatlicher Verwaltung – Berlin im Schatten von TTIP).
Sie gehen davon aus, dass TTIP nicht nur den Wettbewerb zwischen den Konzernen, sondern auch den Wettbewerb zwischen den Arbeitnehmern verschärfe. Was meinen Sie damit?
Max Otte: Bei Freihandelsabkommen setzen sich tendenziell die niedrigsten Standards durch. Also wird dem Lohn- und Sozialdumping Tür und Tor geöffnet. Man darf auch nicht vergessen, dass die USA durch NAFTA eine Freihandelszone mit Mexiko bilden. Amerikaner konkurrieren also mit Mexikanern – und Europäer dann in Zukunft noch mehr mit Amerikanern. Und das Sozialsystem dieser Länder wollen wir nun wirklich nicht (Atlantikbrücke, TTIP und Flüchtlingskrise: die geheimen Spiele der Mächtigen).
Glauben Sie, dass der Protest in Europa gegen TTIP irgendwelche Auswirkungen auf die Verhandlungen hat?
Max Otte: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Immerhin merken viele Menschen in Europa, dass hier etwas falsch läuft und dass sie wahrscheinlich unter die Räder kommen werden. Die Mainstream-Medien haben diese Proteste nur sehr verkürzt dargestellt – die große TTIP Demo im Oktober 2015 in Berlin mit bis zu 150.000 Teilnehmern fand in den Nachrichtensendungen kaum statt. Komisch (Merkel möchte Unterschriften von 1,6 Millionen Bürgern gegen TTIP nicht entgegennehmen (Video)).
Was wäre denn, wenn TTIP tatsächlich scheitert? Würden wir nicht wirtschaftlich abgehängt, weil sich die USA dann noch stärker als bisher dem pazifischen Raum zuwenden?
Max Otte: Aber nein: Wer die Regeln definiert, hat auch im Wettbewerb gute Chancen. Europa müsste endlich geschlossen auftreten, um den eigenen Weg der sozialen Marktwirtschaft oder des „rheinischen Kapitalismus“ zu verteidigen und zu exportieren. Nur wenn Europa geschlossen auftritt und sich vom angelsächsischen Kapitalismus abgrenzt, haben wir eine Zukunft. Wir sind einer der drei großen Wirtschaftsblöcke. Wenn wir wissen, was wir wollen, werden sich die anderen schon danach richten, wenn sie mit uns Geschäfte machen wollen.
Professor Max Otte ist Ökonom mit dem Schwerpunkt Finanzmarktordnung und lehrt in Worms und Graz. Er hat verschiedene Freihandelsabkommen untersucht, darunter das NAFTA-Abkommen zwischen Nordamerika und Mexiko. Bekannt wurde Max Otte durch sein Buch „Der Crash kommt„, in dem er bereits 2006 die große Finanzkrise vorhersagte.
Contra Freihandel: TTIP verstärkt Ungleichheit
Die Geschichte zeigt, dass der Freihandel zu größerer ökonomischer Ungleichheit führt. Exportorientierte Konzerne und deren Aktionäre profitieren von höheren Gewinnen und drängen kleinere Unternehmen aus dem Markt. So könnten durch TTIP kleine landwirtschaftliche Betriebe in der EU daran zugrunde gehen, dass in den USA aufgrund größerer Flächen kostengünstiger produziert wird. Hinzu kommt die Sorge in Europa, dass die billigeren Lebensmittel aus den USA die Gesundheit gefährden.
Aber in noch größerem Ausmaß würden kleinere Firmen aus dem Industrie- und Dienstleistungssektor durch abgesenkte Qualitätsstandards und eine Niedrigpreisstrategie der US-Konzerne in Bedrängnis geraten. Spielen zum Beispiel heute bei der Vergabe von Aufträgen durch Kommunen die Verwendung von lokalen Produkten, Tariftreue und Nachhaltigkeit noch eine Rolle, auch damit kleinere und mittlere Unternehmen aus der Region zum Zuge kommen, wäre das mit TTIP wohl nicht mehr möglich.
Video: Die Macht der TTIP-Lobby
Stolz auf heimische Produkte
Frankreichs Außenhandels-Staatssekretär Matthias Fekl sieht sogar eine einseitige Ausrichtung der TTIP-Verhandlungen: „Wenn es das Verhandlungsziel ist, Europa niedrigere Standards zu bringen, Nahrungsmittel, die wir nicht essen wollen, und Energie- und Klimaentscheidungen, die nicht unsere sind, und wir im Umkehrschluss immer noch keinen Zugang zu den öffentlichen amerikanischen Märkten oder eine Anerkennung unserer geographischen Angaben haben, wird es natürlich Probleme geben.“
Die US-Konzerne, die mit am Tisch sitzen, wollten europäische Märkte erobern, ohne den eigenen Markt für die Europäer zu öffnen, so Fekl. Sie würden sich Vorteile von TTIP versprechen auf Kosten von kleineren, regional verwurzelten Firmen, die mit besonderen Produkten Marktnischen bedienen. Regierungspolitiker aus dem „stolzen“ Frankreich wie Matthias Fekl zeigen offensichtlich eine größere Sensibilität für den besonderen Wert heimischer Produkte.
Schiedsverfahren für Konzerne
Mit TTIP soll ein paralleles Rechtssystem aufgebaut werden. Das steht dann aber praktisch nur multinationalen Konzernen offen bei durchschnittlichen Kosten pro Schiedsverfahren von acht Millionen Euro. Kleinere und mittlere Unternehmen können sich das nicht leisten.
So wird ein Zweiklassenrecht für Unternehmen eingeführt. US-Konzerne dürften dann noch vehementer gegen Gesetze und Bestimmungen in EU-Staaten vorgehen, z. B. gegen Anti-Raucher-Gesetze, gegen Verbote giftiger Stoffe oder gegen Umweltverträglichkeitsprüfungen bei gefährlichen Abfällen. Den Schadensersatz, den multinationale Konzerne wegen entgangener Profite einklagen können, zahlt am Ende der Steuerbürger in Europa.
TTIP hat sich somit zurecht in der öffentlichen Wahrnehmung zu einem Instrument der Inbesitznahme Europas durch die USA entwickelt.
Literatur:
38 Argumente gegen TTIP, CETA, TiSA & Co.: Für einen zukunftsfähigen Welthandel von Harald Klimenta
Der Unfreihandel: Die heimliche Herrschaft von Konzernen und Kanzleien von Petra Pinzler
Ändere die Welt!: Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen von Jean Ziegler
Quellen: PublicDomain/PRAVDA TV/3sat am 07.04.2016
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