Dicke Lärmspuren ziehen sich durch die Ostsee. Erste Lärmkarten aus Ostsee und Mittelmeer zeigen, dass Meerestiere, die zum Teil auf Geräusche zur Orientierung angewiesen sind, immer weniger Rückzugsräume finden.
Die Fische, Wale und Delfine im Mittelmeer schwimmen zumindest mancherorts in einem Höllenlärm. Zu diesem Schluss gelangen Wissenschaftler aus Frankreich, Italien, der Schweiz und den USA, die erstmals eine Karte der Lärm-Hotspots im Mittelmeer erstellt haben.
Speziell die in den vergangenen Jahren intensivierte Suche nach Öl- und Gasvorkommen mittels Schallkanonen sei ein großes Problem, sagte die Koautorin der Studie, Silvia Frey, am Donnerstag. „Das ist viel, viel lauter als ein startender Düsenjet.“ Die Fische hörten und spürten den Lärm. Eine generelle Geräuschquelle seien die durchschnittlich etwa 1500 Handelsschiffe, die zu jedem Zeitpunkt im Mittelmeer unterwegs seien.
(Titelbild: Berechnete Lärmkarte der westlichen Ostsee für Januar 2014. Die Karte zeigt den Lärm in einem für Schiffsgeräusche typischen Frequenzbereich zwischen 112 und 141 Hertz. Die Lärmbelastung nimmt von Grün nach Rot zu. Der Lärm liegt in einem Viertel der Zeit beim angezeigten Farbwert)
Der Bericht im Auftrag des Abkommens zum Schutz von Walen und Delfinen im Mittelmeer und im Schwarzen Meer (ACCOBAMS) hat die Lärmquellen im Zeitraum von 2005 bis 2015 erfasst. Dafür wurden Daten von 1446 Häfen, 228 Ölplattformen, 830 seismischen Explorationsgebieten, sieben Millionen Schiffspositionen, offiziell zugänglichen Angaben zu militärische Aktivitäten und 52 Windfarmprojekten erfasst.
Der Einsatz von Schallkanonen habe enorm zugenommen, berichten die internationalen Meeresschutzorganisationen Oceancare und der Rat zur Verteidigung von Naturschätzen (NRDC) weiter. 2005 seien nur knapp vier Prozent der Oberfläche des Mittelmeeres betroffen gewesen, 2013 bereits 27 Prozent. Zwar könnten sich die Fische in ruhigere Gebiete zurückziehen, sagt Frey. Aber es sei oft schwierig, einen Ersatz für eine biologisch wertvolle Ursprungs-Umgebung zu finden (Lärmkarte erstellt: Fische, Wale und Delfine – es ist extrem laut im Mittelmeer).
Laut wie in der Disco
Wenn Rainer Matuschek eine Messkampagne mit Unterwassermikrofonen ausstattet, kauft er gerne ein paar mehr. Aus Erfahrung. „Schwund ist immer dabei“, versichert der Akustikexperte vom Oldenburger Institut für technische und angewandte Physik. Das war auch bei den Messungen so, die er 2014 für BIAS durchgeführt hat. Als er im Sommer draußen war, um Batterien zu wechseln, kam eines der Mikrofone nicht vom Grund hoch. „Die Stelle war stark mit Muscheln bewachsen“, erzählt Matuschek. „Das Mikrofon hat die Aufforderung, sich vom Grundanker zu lösen, zwar bestätigt. Die Muscheln waren aber wohl zu schwer für die Bergungsboje.“
BIAS ist das EU-Umweltprojekt Baltic Sea Information on the Acoustic Soundscape. Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Polen und Schweden haben sich hier zusammengetan, weil die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie der EU drängt. Sie verordnet Europas Meeren für 2020 einen guten Umweltzustand. Das gilt auch für den Unterwasserlärm. Im Meer ist es heute vielerorts so laut wie in der Disco.
Ständig lärmen Schiffe, Bauarbeiten und aktive Schallortungsgeräte. Wale, Delfine, Robben und Seehunde sind besonders betroffen. Der Lärm erschwert es ihnen, sich zu orientieren, Nahrung zu finden oder zu kommunizieren. Extremer Krach kann bei ihnen sogar körperliche Schäden verursachen oder zum Tod führen (Schallkanonen vs. Mönchsrobben und Wale: Geophysiker und Naturschützer im Konflikt).
2020 ist nicht mehr weit. Höchste Zeit also, die Lärmbelastung zu erfassen und Schutzmaßnahmen anzugehen. Peter Sigray hätte das gerne schon früher getan. Der Initiator und Koordinator von BIAS, der in Stockholm Unterwassertechnik lehrt, wollte eigentlich 2011 loslegen. „Wir mussten damals aber feststellen, dass es weltweit keine Normvorschriften gibt, wie Unterwasserlärm zu messen und zu bewerten ist“, erinnert sich Sigray. Er und seine Mitstreiter beantragten deshalb zunächst bei der EU die Finanzierung für ein Projekt, um die benötigten Normvorschriften zu entwickeln und erste Messungen durchzuführen. Mit Erfolg. Im September 2012 startete BIAS.
Inzwischen sind die Normvorschriften fertig. Bei einer gemeinsamen Messkampagne mit 38 in der Ostsee verteilten Unterwassermikrofonen wurden sie auch schon angewendet. Dass dabei einige Mikrofone und damit Messdaten verloren gegangen sind, sieht nicht nur Matuschek gelassen. „Die Datenmenge, die zusammengekommen ist, reicht satt, um alles zu machen, was wir uns vorgenommen haben“, versichert Sigray.
Zusammen mit Thomas Folegot hat BIAS jetzt auch erste Lärmkarten für die Ostsee berechnet. Der französische Wasserschallexperte hat ein Verfahren entwickelt, mit dem er den Unterwasserlärm ermitteln kann, ohne selbst messen zu müssen. „Was ich brauche, finde ich in Meereskarten, Wetterberichten und Schiffsverkehrsdaten“, bestätigt Folegot. Die Daten aus der Messkampagne sind trotzdem willkommen. Sie erlauben es ihm, seine Karten noch näher nach der Wirklichkeit zu zeichnen. „Wenn ich für konkrete Orte zeitgenaue Lärmwerte bekomme, kann ich das mathematische Modell für die Kartenberechnung besser an die echten Gegebenheiten anpassen“, erläutert Folegot.
Was die Lärmkarten zeigen, überrascht nicht: Wo die Schifffahrtswege dicht liegen, sind die Karten rot vor Lärm. Die Ostsee ist schließlich eines der meist befahrenen Meere in Europa. Zu jeder Tages- und Nachtzeit sind 2000 größere Schiffe unterwegs. Das hat die Ostsee-Umweltkommission Helcom bereits 2010 festgestellt. Eine Studie der Umweltschutzorganisation WWF kommt zu dem Schluss, dass es 2030 sogar doppelt so viele Schiffe sein werden.
Wenn BIAS 2016 endet, gilt das nicht für die Messungen. Beim Unterwasserlärm reicht eine einzelne Messkampagne nicht, um den Umweltzustand zu beurteilen. „Die EU verlangt, dass regelmäßig nachgemessen wird, wie sich die Lärmwerte entwickeln“, betont Sigray. „Das Urteil guter oder schlechter Umweltzustand hängt auch davon ab, ob der Lärm zu- oder abnimmt.“ Folegots Lärmkarten können die Messungen vorerst nicht ersetzen. „Da fehlt noch das Vertrauen“, meint Sigray. „Sie werden trotzdem weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Die Lärmbelastung eines größeren Gebiets ist nur mit ihnen zu beurteilen. Man kann nicht überall Mikrofone haben.“
Nach BIAS müssen die Ostseeanrainer selbst messen und die Messwerte in eine Datenbank der Helcom einspeisen. Die deutschen Messstellen beabsichtigt das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) zu übernehmen. Es ist seit Anfang an beim Projekt dabei und hat die Normvorschriften mit entwickelt. „Durch die Genehmigungsverfahren für Meereswindparks sind wir mit dieser Thematik besonders vertraut“, erklärt Maria Boethling (Töten Windturbinen Wale?).
Die Ozeanographin betreut am BSH bei vielen Umweltprüfungen die Wasserschallmessungen. „Wir haben hier aufgrund selbst entwickelter Vorschriften umfangreiche praktische Erfahrungen und kennen auch die Vorstellungen der Bundes- und Landesbehörden, die sich mit Unterwasserlärm beschäftigen.“
Dass den Messungen schnell Lärmschutzmaßnahmen folgen, wie viele Umweltschützer hoffen, bezweifelt Boethling. „Es wird vermutlich noch länger dauern“, dämpft sie die Erwartungen. „Auch wenn irgendwann ausreichend Messungen vorliegen, wird man erst international darüber beraten müssen, ob überhaupt Maßnahmen nötig sind und wenn ja, welche. Umweltschutz auf dem Meer ist nur bei gemeinsamen Regelungen sinnvoll und wirksam. Es bringt nichts, wenn die deutschen Werften einseitig gezwungen werden, leisere Schiffe zu bauen oder die Schiffe nur in deutschen Gewässern langsam fahren müssen.“
Für Wale, Delphine und Co. haben die Fangverbote zwar die Belastung dieser Meeressäuger durch Fischer und Walfänger verringert, dafür hat aber die akustische Schmerzzufuhr – durch Schiffsmotoren, Luftpulser von Erdölkonzernen und das Einrammen von Pfählen für Windkraftanlagen – zugenommen (Großes Walsterben geht weiter (Videos)).
Und diese Lärmquellen können für die Tiere tödlich sein, zumal wenn das Hörorgan im Bereich der erzeugten Frequenzen besonders empfindlich ist. Die amerikanische Fischereibehörde verlangt erst einmal genauere Forschungsergebnisse, bevor sie Lärmschutzmaßnahmen im Meer anordnet.
In Julia Whittys Mare-Buch „Riff“ (2015) fand sich der Hinweis, dass Delphine beim Schlafen die Ohren verschließen, ihre Augen hingegen offen lassen (bei uns ist es bekanntlich umgekehrt, ebenso dass sie bewußt atmen).
Die FAZ berichtete kürzlich, dass eine Forschergruppe der Staatsuniversität Oregon im Challengergraben bei den Marianeninseln im westlichen Pazifik, am tiefsten Punkt des Meeres – in 11.000 Metern Tiefe – mit ihren Hydrofonen noch „recht laute Geräusche“ registrierten: Zum Einen „Rufe von Walen“ und zum anderen „Schiffsschrauben“, obwohl die Schiffe elf Kilometer oberhalb der Hydrophone fuhren.“
Literatur:
Der Grüne Blackout: Warum die Energiewende nicht funktionieren kannvon Alexander Wendt
Menschenzeit: Zerstören oder gestalten? Wie wir heute die Welt von morgen erschaffen von Christian Schwägerl
Kritik des Anthropozäns: Plädoyer für eine neue Humanökologie von Jürgen Manemann
Das sechste Sterben: Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt von Elizabeth Kolbert
Quellen: PublicDomain/SVZ/StZ/TAZ am 12.04.2016
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