Baltimore und Ferguson haben es gezeigt: Der amerikanische Traum steckt in der Krise. Nicht nur Rassenressentiments sind dafür verantwortlich, auch der Graben zwischen den Klassen wird größer.
Robert Putnam macht die unsichtbaren Dinge sichtbar. Der bekannte Politikwissenschaftler richtet sein Echolot auf die amerikanische Gesellschaft, er erkennt und beschreibt Veränderungen in großen Linien. Im Jahr 2000 hat Putnam in „Bowling alone“ den Trend zur Vereinzelung in Amerika beschrieben. Sein gerade erschienenes Buch „Unsere Kinder. Der amerikanische Traum in der Krise“ liest sich nun wie eine Gebrauchsanweisung für die Rassenunruhen von Ferguson und Baltimore, wo Schwarze Misshandlung durch Polizeibeamte erfahren haben.
(Bild: Bei einer Demonstration in Baltimore verbirgt ein Mann sein Gesicht hinter einer US-Flagge)
Zehn Jahre lang haben Putnam und sein Team Daten gesammelt und individuelle Lebensgeschichten gesucht, um zu verstehen, was in Amerikas Unterschicht falsch läuft. Sie haben versucht zu ergründen, warum die Chancengleichheit zwischen Arm und Reich immer mehr abnimmt – egal ob es sich um Schwarze, Hispanics oder Weiße handelt. Seine Antworten hat Putnam diese Woche auch mit Obama diskutiert. Wir haben vorher mit dem Soziologen gesprochen.
Professor Putnam, Sie haben erforscht, woran der amerikanische Traum scheitert. Haben die Antworten etwas mit Baltimore zu tun?
Robert Putnam: Ich stimme mit Präsident Obama überein, der die tiefer liegenden Ursachen in einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit sieht. Natürlich gibt es in Baltimore auch spezifische Probleme, insbesondere die Beziehungen zwischen den Schwarzen und der Polizei. Das ist ein Rassenproblem, das zu lange gegärt hat. Bei dem größeren Thema jedoch, über das ich in „Our Kids“ schreibe, geht es nicht allein um ein Rassen-, sondern vor allem um ein Klassenproblem. Das ist auch ein wichtiger Hintergrund für das, was in Baltimore passiert ist und was auf andere Teile Amerikas genauso zutrifft.
Klassenzugehörigkeit entscheidet heute in Amerika also mehr über Erfolg oder Scheitern als die Hautfarbe?
Putnam: Es gibt ein Thema, bei dem Rasse noch immer das bestimmende Merkmal ist: Gerechtigkeit im Strafverfolgungssystem. Darum ging es ja in erster Linie in Baltimore. Auch hier spielt die Schichtzugehörigkeit eine Rolle, es ist aber in erster Linie eine Rassenfrage. Aber in vielen anderen Bereichen ist Klasse heute wichtiger als Rasse. Ich möchte jedoch nicht so verstanden werden, als seien die Rassenprobleme in Amerika alle gelöst und als könnten wir uns nun allein auf die Frage von Klassenunterschieden konzentrieren.
In Baltimore ist viel von dem zu beobachten, was sie als Diagnose sehen: Sich auflösende Familienverhältnisse, abwesende Väter, Kinder, die ohne Leitplanken und Autoritäten aufwachsen. Inwiefern gilt das über Baltimore hinaus?
Putnam: Es ist traurig! Viel zu wenige Amerikaner sind sich bewusst, wie tief der Graben zwischen reichen und armen Kindern inzwischen geworden ist. Und mit reichen Kindern meine ich nicht die Kids von Bill Gates, sondern Kinder aus Bildungshaushalten. Und mit armen Kinder meine ich nicht die ärmsten der Armen, die untersten ein Prozent, sondern das untere Drittel. Dieser Graben zwischen dem oberen und dem unteren Drittel der Gesellschaft ist auf eine Weise gewachsen, die die Amerikaner schockiert, wenn sie davon erfahren. Das ist der Grund, warum ich über so viele echte Lebensgeschichten geschrieben habe. Ich wollte meinen Mitbürgern so lebendig wie möglich schildern, was in den vergangenen Jahrzehnten passiert ist.
Eine Gruppe von Wissenschaftlern schrieb gerade in der Washington Post, dass viele Kinder in Armenviertel unter einem posttraumatischem Stresssyndrom leiden, das vergleichbar ist mit dem von Armeeveteranen. Welchen Einfluss hat das auf die Entwicklung der Kinder?
Putnam: Das Niveau von dem, was manche Entwicklungspsychologen „toxischer Stress“ nennen, ist unter armen Kindern sehr hoch. Das gilt für die großen städtischen Gettos, aber genauso für Arme in kleinen Städten. Toxischer Stress – etwa mit Gewalt bedroht zu werden, missbraucht zu werden oder unter einem Mangel an Essen oder Kleidung zu leiden, wenn Eltern betrunken oder high sind oder wenn eines der Familienmitglieder im Gefängnis ist – löst eine chemische Kettenreaktion aus, die die Entwicklung des Gehirns behindert und seine grundlegende Struktur verändert. Das kann lebenslange Lernschwierigkeiten zufolge haben, kann die physische und mentale Gesundheit beeinträchtigen.
Sie wuchsen in den 50er- und 60er-Jahren in Port Clinton bei Ohio in einem sehr viel egalitäreren Amerika auf. Was hat sich seitdem verändert?
Putnam: Erst einmal vorausgeschickt, um Missverständnissen vorzubeugen: In mancher Hinsicht ist es heute besser, sowohl in Port Clinton als auch im ganzen Land. Rassenzugehörigkeit ist heute eine weit weniger wichtige Trennungslinie als damals. Und es gibt große Fortschritte, was die Perspektiven von Frauen anbelangt im Vergleich zu jener Zeit, in der ich aufgewachsen bin. Aber was die Frage der sozialen Klassen anbelangt, ist das etwas anderes. Die Kinder mit verschiedenem Klassenhintergrund spielten früher alle zusammen, gingen zusammen zur Schule und zusammen zur Kirche, und sie waren bemerkenswert gut sozial integriert. Sie waren im selben Footballteam, dort spielten nicht nur die reichen Kinder. Und es war auch nicht so, dass allein die reichen Kinder die Chance hatten, in der Schule erfolgreich zu sein. Aber selbst in dieser winzigen Stadt hat sich das verändert. Reiche und arme Leute leben nun in unterschiedlichen Vierteln, die Kinder haben nichts mehr miteinander zu tun.
Ihre Leben berühren sich nicht mehr.
Putnam: Ja. Und was die Aufstiegschancen anbelangt, die waren bei armen Kindern in meiner Jugend fast so groß wie bei den reichen Kindern. Das hat sich in Port Clinton komplett verändert. Reiche Kinder und ihre Familien können sich den Zerfall im Leben der armen Kinder kaum vorstellen. Als ich aufwuchs, betrachteten meine Eltern und andere Eltern alle Kinder in der Stadt als „unsere Kinder“, egal ob reich oder arm, deshalb auch der Titel meines Buches. Der fundamentale Verlust einer gemeinsamen Identität und gemeinsamer gegenseitiger Verantwortung, das ist meiner Ansicht nach die tiefere Ursache für diesen Wandel.
Die Leute fühlen sich also nicht mehr verantwortlich dafür, auch den Kindern anderer Eltern zu helfen oder sich um sie zu kümmern?
Putnam: Das ist richtig. Sie fragen mich natürlich nach den USA und nicht nach Deutschland, weil ich darüber nicht geschrieben habe. Aber man könnte durchaus auch die Frage stellen, ob es in Europa ähnlich ist, ob gebürtige Dänen oder Deutsche die armen Flüchtlingskinder aus Nordafrika oder dem Nahen Osten als „unsere Kids“ betrachten. Mein Eindruck nach Besuchen in mehreren nord- und südeuropäischen Ländern ist jedoch, dass es dort ein ähnliches Problem gibt. Ich möchte das nicht als billige Kritik verstanden sehen. Ich versuche nur, einem deutschen Publikum zu verdeutlichen, was ich meine, wenn ich sage: Wir sehen diese Kinder nicht mehr als unser aller Kinder an.
Es gibt auch einen erheblichen Graben, was die Stabilität der familiären Verhältnisse angeht. Amerika erlebte in den 70er-, 80er-Jahren eine Scheidungswelle, seitdem ist die Scheidungsrate in der Mittelklasse jedoch fast zur alten Werten zurückgekehrt. In der Unterschicht nehmen die Scheidungen jedoch weiter zu. Warum?
Putnam: Darüber gibt es eine große Debatte. Fehlende Stabilität in der Familie ist sehr schlecht für die Entwicklung von Kindern und der wachsende Graben bei den Familienverhältnissen ist ein wichtiger Grund für die auseinandergehende Schere bei Aufstiegschancen von armen und reichen Kids. Die Debatte über die Ursachen lässt sich auch an den Reaktionen auf mein Buch ablesen. Konservative sagen: Putnam zeigt auf, dass die Chancenungleichheit von kulturellen Veränderungen herrührt, mit dem Wohlfahrtsstaat und der Permissivität der 60er-Jahre zu tun hat. An den kulturellen Erklärungen ist manch Wahres dran, aber nicht annähernd so viel, wie viele Konservative denken. Auf der anderen Seite sagen die Linken, dass der Grund in der langen Phase der wirtschaftlichen und Einkommensstagnation zu suchen ist, die vor allem Männer aus der Arbeiterklasse betrifft. Und natürlich ist auch das teilweise wahr. Ich hoffe jedoch, dass wir uns nicht in einer ideologischen Debatte verheddern. Am Ende sollten wir uns vor allem Sorgen um die Kinder machen.
Wenn Familien zerbrechen, könnte man meinen, dass die Menschen sich anderswo Hilfe suchen: in Kirchen, bei Nachbarn und informellen Netzwerken. Das scheint aber nicht der Fall zu sein. Häufig ist die Großmutter der einzige Anker für Kinder.
Putnam: Das ist so, aber Großmütter können natürlich die Defizite im Zusammenhalt der Gemeinschaft, auch was Kirchen oder andere Gemeinschaftsinstitutionen anbelangt, nicht alleine ausgleichen. Die Bürgergesellschaft war historisch sehr wichtig für Amerika – das geht bis auf Tocqueville zurück. Und deshalb ist ihr Niedergang, besonders in der Arbeiterklasse, so viel gravierender, als er es wäre, wenn wir uns nicht so stark auf die Zivilgesellschaft gestützt hätten.
Was kann Amerika tun, um der Unterschicht wieder eine faire Chance auf den amerikanischen Traum zu geben?
Putnam: Es braucht politische Entscheidungen, etwa von der Bundesregierung oder lokalen Regierungen oder zivilen Institutionen wie Kirchen, um die Situation zu verbessern. Die größte Hürde besteht darin, dass Amerika erkennt, wie groß das Problem tatsächlich ist. In der Geschichte haben Amerikaner Probleme wie dieses behoben. Es gibt bestechende Parallelen zwischen der Not heute und der Not der 1890er-Jahre bis etwa um 1900. Das wurde damals „gilded age“ genannt, und es ist kein Zufall, dass unsere heutige Periode manchmal als zweites goldenes Zeitalter bezeichnet wird.
Wie kam es damals zur Veränderung?
Putnam: Es dauerte etwa 20 Jahre. Es war eine spannungsgeladene Zeit sozialer und politischer Mobilisierung, als die Amerikaner sich ziemlich plötzlich der Probleme von Reichtum und Armut bewusst wurden und entschieden, etwas zu ändern. Ende des 19. Jahrhunderts war der Sozialdarwinismus die vorherrschende Philosophie. Sie dominierte das Denken in derselben Art, wie der extreme Individualismus die amerikanische Gesellschaft heute beherrscht. Diese Phase ging zu Ende, nachdem ein eingewanderter dänischer Journalist, Jacob Riis, ein Buch geschrieben hatte mit dem Titel „Wie die andere Hälfte lebt“. Er beschreibt die Verwahrlosung von Wohnblöcken in der Lower East Side von New York. Das Buch war nicht der einzige Grund für die Wende, aber Historiker denken, es hat eine große Rolle gespielt.
Weil es Empathie geschaffen hat für die andere Hälfte?
Putnam: Genau. Nun will ich nicht sagen, dass ich selbst ein Jacob Riis bin. Aber es ist das Genre, in dem „Our Kids“ geschrieben wurde und das Ziel, das hinter der Verwendung all dieser detaillierten individuellen Schicksale steckt. Ich möchte mehr Leute da oben überzeugen, dass sie ein Interesse an den Kids da unten haben sollten. Als den Amerikanern das Problem damals bewusst wurde, begannen sie ziemlich schnell, Lösungen zu entwickeln. Eine der interessantesten war die Erfindung der kostenlosen weiterführenden Schule, der High School. Das brachte dem Land einen Schub durch Humankapital. Die amerikanische Arbeiterschaft war dadurch in den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts weit besser ausgebildet als anderswo, und das ist ein Faktor, der den Wohlstand Amerikas in dieser Periode erklärt. Diese Reform gab reichen und armen Kindern ähnliche Aufstiegschancen. Dazu bedurfte es dessen, was Tocqueville „aufgeklärtes Eigeninteresse“ nennt: Reiche bezahlten für die Bildung anderer Leute Kinder und realisierten, dass das besser für alle sein würde. Ich glaube, Amerika könnte heute eine ähnliche kulturelle Veränderung herbeiführen.
Was ist heute das Äquivalent für die High School?
Putnam: Frühkindliche Bildung von 0 bis 4 Jahren wäre ein wichtiger Beitrag, um mehr Chancengleichheit herzustellen. Ich denke auch, dass wir sehr viel mehr Energie und Geld für das Community College aufwenden sollten.
So ähnlich wie das duale System in Deutschland, die Berufsausbildung?
Putnam: Absolut. In diesem Bereich können wir sehr viel von Deutschland lernen. Aber die wichtigste Veränderung besteht darin, den seit 50 oder 60 Jahren anhaltenden Niedergang in der gemeinschaftlichen Solidarität umzukehren. Ich denke nicht, dass das von heute auf morgen passiert. Aber das ist die langfristige Perspektive, die wir haben sollten, wenn wir über Baltimore nachdenken.
Aber was würden Sie einer alleinerziehenden Mutter in Baltimore raten, die ihren Kindern heute schon eine Chance geben will?
Putnam: Ich würde ihr sagen, es ist sehr wichtig, dass sie ihren Kindern beständige, persönliche Zuwendung schenkt. Das schließt etwa mit ein, den Kindern jeden Tag vorzulesen. Wir wissen, dass diese Art von aktiver, stetiger Anteilnahme mächtige Wirkung entfaltet. Das klingt natürlich etwas blöd von jemandem wie mir. Für mich mit meinen Enkeln und für meine Kinder, die ihren Kindern vorlesen, ist das einfacher, weil wir nicht in Armut leben. Es soll also nicht so rüberkommen, als würde ich der armen Mutter ihre Defizite vorwerfen. Aber es ist tatsächlich so, dass arme Eltern ihren Kindern helfen wollen, aber dass sie dazu nicht in der Lage sind. Teilweise aus wirtschaftlichen Umständen, oder weil es an Vorbildern mangelt, die ihnen ermöglichen würden, bessere Eltern zu sein. Das gilt gleichermaßen für die armen weißen Mütter wie für die armen schwarzen und hispanischen Familien. Ich würde also einer armen weißen Mutter in den Appalachen denselben Rat geben wie der schwarzen Mutter in Baltimore.
Literatur:
Schwarzbuch USA von Eric Frey
Der Stern und das Schwert von Wayne Madsen
Die Weltbeherrscher: Militärische und geheimdienstliche Operationen der USA von Armin Wertz
Rassismus in den USA: Historie und Analyse einer Rassenkonstruktion von Oliver Demny
Quellen: dpa/WeltOnline/n25.de vom 11.05.2015
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