Der neue Grundrechtereport listet zahlreiche Beispiele von Verstößen durch staatliche Institutionen auf, hält aber auch ein paar gute Nachrichten bereit.
„Die Gefährdung der Verfassung geht vom Staat aus“, warnen die Herausgeber des jetzt erschienenen „Grundrechte-Reports 2015„. Darin dokumentieren acht Bürger- und Menschenrechtsorganisationen wie die Humanistische Union oder die Neue Richtervereinigung, wie staatliche Stellen mit dem Grundgesetz umgehen.
Einmal im Jahr erklären Verfassungsschutzämter von Bund und Ländern den Bürgern, wer nach ihren Erkenntnissen die Verfassung und Sicherheit der Bundesrepublik gefährdet. Von Islamisten und Linken ist dann die Rede, auch von Neonazis. Sich selbst erwähnen sie nicht. Genauso wenig wie prügelnde Bundespolizisten, verstockte Versammlungsbehörden oder autoritäre Innenpolitiker. Diese Aufgabe übernehmen daher acht Bürger- und Menschenrechtsorganisationen, die einen Tag vor dem Tag des Grundgesetzes am Freitag in Karlsruhe ihren diesjährigen Grundrechtereport vorstellten und festhalten: »Die Gefährdung der Verfassung geht vom Staat aus.«
Wie genau staatliche Institutionen gegen Grund- und Menschenrechte der Bürger verstoßen, weisen Rechtsanwälte, Datenschützer, Alt-Liberale, ehren- und hauptamtliche Bürgerrechtsaktivisten auf knapp 250 Seiten systematisch nach. »Durch technisierte Ausspähung und Überwachung wird immer hemmungsloser in die Grundrechte eingegriffen«, erklärte Constanze Kurz bei der Präsentation des Berichts. Die Netzexpertin klingt beinahe resigniert, wenn sie konstatiert, dass sich auch fast zwei Jahre nach Beginn der Snowden-Enthüllungen politisch nichts getan habe. »Der nicht nennenswert kontrollierte geheimdienstliche Komplex unterminiert weiterhin Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis bis zur Unkenntlichkeit, nur jetzt mit unserem Wissen«, so Kurz.
Die bekanntgewordene Ausspähung durch NSA und BND bilden einen Schwerpunkt des »Alternativen Verfassungsschutzberichts«. Der Jurist und Publizist Rolf Gössner legt dar, dass der BND sogar noch aufgerüstet wird, statt die Überwachungsmaschinerie zu zügeln. Dass die Bundesanwaltschaft die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen der massenhaften Überwachung mangels »zureichender Tatsachen« eingestellt hat, kritisiert Gössner als »Realitätsverleugnung oder Willfährigkeit«, die sich nahtlos ins Bild regierungsamtlich organisierter Verantwortungslosigkeit einfüge.
Der Aktivist Andreas Blechschmidt machte in Karlsruhe deutlich, was es bedeutet, wenn Sicherheitsbehörden jemanden zum Feind erklären. Jahrelang forschte eine verdeckte Ermittlerin die linke Szene Hamburgs aus, pflegte Liebesbeziehungen und Freundschaften. Dabei seien personenbezogene Daten weitergegeben worden. Das sei strafrechtlich relevant, betonte Blechschmidt, der einer Recherchegruppe im autonomen Kulturzentrum Rote Flora angehört, die den Vorfall aufgedeckt hat.
Einige Beiträge erinnern an wichtige Gerichtsentscheidungen und Etappensiege, manch positive Bilanz ist bei Erscheinen des Reports schon wieder überholt. Die Herausgeber haben das geahnt. »Über erneute Versuche der Einschränkung der Freiheitsrechte und der Überwachung aller Bürger wird im nächsten Report zu berichten sein«, schreiben sie in ihrem Vorwort.
So freut sich der Datenschutzbeauftragte Thilo Weichert in dieser Ausgabe noch, dass der Europäische Gerichtshof die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung verworfen hat und damit die Diskussion auch hierzulande beendete, setzte aber vorausschauend ein »vorläufig« hinzu. Wohl kaum jemand hätte allerdings damit gerechnet, dass sie so schnell wieder auf dem Tisch liegen würde. Schon in der kommenden Woche will das Kabinett die Maßnahme unter neuem Namen wieder beschließen.
Und das, obwohl nationale Alleingänge bei vielen anderen Themen – etwa bei der Aufnahme von Flüchtlingen – in der Regierung verpönt sind. Die Kritik am Umgang mit Menschen in Not, die in Deutschland ein besseres Leben suchen, bildet einen weiteren Schwerpunkt des diesjährigen Grundrechtereports.
Die Bürgerrechtsorganisationen widmen sich in ihrer Rückschau notwendigerweise den großen politischen Skandalen, vergessen aber auch die »kleineren«, alltäglichen Verletzungen und Diskriminierungen von Bürgern in diesem Land nicht. Sie gehen auf die verschleppte Inklusion von behinderten Schülern ein oder die anhaltende Ausgrenzung von Inter- und Trans-Menschen. So manche Schilderung macht regelrecht betroffen: Etwa die einer pflegebedürftigen Frau, die mit Gerichten und Behörden um 576 Euro für eine Zahnprothese ringen musste. Menschenwürde und Gerechtigkeit, das zeigt dieser Fall, der kein Einzelfall sein dürfte, scheinen in einigen deutschen Amtsstuben Fremdwörter zu sein.
Seit 1997 erscheint der Grundrechtereport, seither dokumentiert er in der Regel die unzähligen Einschränkungen des Versammlungsrechts, sei es durch Auflagen, Kesselung von Demonstranten oder den Einsatz von Pfefferspray. Auch diese Ausgabe macht da keine Ausnahme.
Pia Eberhardt warnt vor „unkalkulierbaren Risiken für die demokratische Gestaltungsmacht des Gesetzgebers“ durch das transatlantische Handels- und Investitionsabkommen TTIP. Zu den weiteren Themen gehören das EuGH-Urteil zum „Vergessen im Maschinenzeitalter“ gegen Google, rote Linien bei der Reform der Anti-Terror-Datei und die „deutsche Verantwortung für völkerrechtswidrige Drohnenangriffe“.
Ein Beitrag ist dennoch anders: Er berichtet von Erfolgen, die erleben kann, wer sich vor Gericht gegen Verstöße wehrt. Dies verdeutliche, schreibt Elke Steven vom Grundrechtekomitee, »dass der lange Atem auf dem Rechtsweg notwendig ist«. Die Bürgerrechtler wollen mit ihrem Report auch Mut machen, sich aktiv für den Schutz der Demokratie einzusetzen.
Literatur:
Gekaufte Journalisten von Udo Ulfkotte
Wenn das die Deutschen wüssten…: …dann hätten wir morgen eine (R)evolution! von Daniel Prinz
Quellen: neues-deutschland.de/heise.de vom 26.05.2015
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