Bewusstsein, Natur und mystische Welterfahrung

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Was ist wahr, das Bild der Wirklichkeit, das uns die Naturwissenschaften erschließen, oder jenes, das der Mystiker in seiner Schau erlebt? So kann nur fragen, wer meint – und das ist wohl die vorherrschende Meinung -, Naturwissenschaft und mystische Welterfahrung würden sich erkenntnismäßig ausschließen. Das ist aber nicht der Fall.

Im Gegenteil, Naturwissenschaft und mystische Welterfahrung ergänzen sich. Das aufzuzeigen, ist der Sinn meiner Ausführungen. Gegenstand der naturwissenschaftlichen Forschung ist das materielle Universum, von dem wir selbst mit unserer Körperlichkeit ein Teil sind. Die naturwissenschaftliche Forschung beschränkt sich auf die Untersuchung und Beschreibung der objektiv mit unseren Sinnen feststellbaren Außenwelt und die Ermittlung der in ihr herrschenden Gesetze.

Voraussetzung für eine solche objektive Betrachtung der Natur ist eine bewußtseinsmäßige Aufspaltung des Welterlebens in Subjekt und Objekt. Ein solches dualistisches Welterleben hat sich zuerst in Europa herausgebildet. Es war schon wirksam im jüdisch-christlichen Weltbild: Ein über der Schöpfung und der Menschheit thronender Gott, sein „Macht euch die Erde untertan“. Die Naturwissenschaften sind ein Produkt des europäischen Geistes. In den Anfangen der neuzeitlichen Naturforschung im 17. Jahrhundert hatte diese noch weitgehend religiöse Bezüge.

Der Forscher trat der Natur als einer vom Geist Gottes belebten Schöpfung gegenüber. Kepler erkannte in den Gesetzen von den Planetenbahnen die Harmonie der von Gott geschaffenen Welt, und in keinem der alten botanischen Werke vergaß der Autor, den Schöpfer für die Wunder der Pflanzenwelt zu preisen. Eine folgenschwere Wendung im Charakter der Naturforschung trat ein, als nach den großen umwälzenden Entdeckungen von Galilei und Newton die Forschung sich immer einseitiger den quantitativen, messbaren Aspekten der Natur zuwandte. Die qualitative, ganzheitliche Betrachtungsweise, für die sich Goethe noch am Beispiel seiner Farbenlehre einsetzte, geriet immer mehr in den Hintergrund. Die quantitativen Methoden der Naturforschung, die sich nicht mehr der direkten Beobachtung bedienten, verlangten für ihre Messungen zunehmend kompliziertere und raffiniertere Apparaturen. Die sich mit dem messbaren Aspekt der Natur befassenden Disziplinen, Physik und Chemie, nahmen einen gewaltigen Aufschwung. Physikalische und chemische Methoden fanden Eingang auch in andere Gebiete der Naturwissenschaft, in Biologie, Botanik und Zoologie. Die großartigen Erfolge der Naturwissenschaften, vor allem auf den Gebieten der Physik und Chemie, die Einblicke in den Makrokosmos der Galaxien bis in den Mikrokosmos der Atome vermittelten, besonders aber die praktische Verwertbarkeit ihrer Erfindungen und Entdeckungen, auf denen sich all die Technologien und Industrien aufbauten, die unser Zeitalter prägen, haben entscheidend zur Entstehung des heute vorherrschenden einseitig materialistischen Weltbildes beigetragen. Darin hat sich eine ungeheure Überschätzung der Bedeutung, die der Chemie und der Physik in der Schöpfung zukommt, breitgemacht.

Es gilt zu erkennen, daß der einseitige Glaube an das naturwissenschaftliche Weltbild auf einem folgenschweren Irrtum beruht. Alles, was es beinhaltet, ist zwar wahr, aber dieser Inhalt stellt nur die Hälfte der Wirklichkeit dar, nur ihren materiellen, quantifizierbaren Teil. Alle physikalisch und chemisch nicht fassbaren, geistigen Dimensionen der Wirklichkeit, zu denen die wesentlichen Merkmale des Lebendigen gehören, fehlen. Es geht hier nicht darum, die Gültigkeit naturwissenschaftlichen Erkennens zu bestreiten und den Wert der messenden Naturforschung herabzumindern, sondern nur darum, auf ihre titanenhafte Einäugigkeit hinzuweisen. Immer kleinere Partikel, Bausteine der Atome, werden als letzte Wirklichkeit unserer Welt erklärt. Den Höhepunkt einer rein materialistischen Weltanschauung bilden Theorien über die Entstehung des Universums, wonach Zufall und Notwendigkeit mittels Chemie und Physik den Kosmos mitsamt den lebenden Geschöpfen der Tier- und Pflanzenwelt hervorgebracht haben sollen.

Den Unsinn einer Schöpfungstheorie möchte ich mit einer Metapher, mit dem Bau eines Hauses, anschaulich machen. Aber es ließen sich als Beispiel für die Voraussetzungen für die Entstehung einer organisierten Form zahllose andere Beispiele heranziehen. Angenommen, irgendwo befände sich das ganze Baumaterial für die Errichtung eines Hauses, und auch die technischen Hilfsmittel und die nötige Energie wären vorhanden. Ohne die Idee eines Erbauers, ohne seine Pläne und ihre planmäßige Ausführung würde ein Haus niemals entstehen, auch wenn man dem Zufall Zeiträume von Milliarden von Jahren für dieses Unternehmen zugestehen würde. Was schon für ein Haus, dem die Dimension des Lebendigen fehlt, gilt, um wieviel mehr noch trifft das für das lebende Universum zu – für jede Blume, für jeden Käfer. Das Absurde solcher Theorien über die Entstehung der Schöpfung, auch wenn sie von Naturwissenschaftlern stammen, die den Nobelpreis erhalten haben, wie Jacques Monod, ist offensichtlich. Fast noch schlimmer als der praktische Missbrauch von Erkenntnissen der Naturwissenschaften, der zur Technisierung, Industrialisierung und Zerstörung weiter Lebensbereiche geführt hat, ist der geistige Schaden solcher nihilistischer Theorien.

Sie entziehen dem Leben die geistigen und religiösen Grundlagen und lassen den Menschen in der Einsamkeit und Ungeborgenheit einer toten technischen Welt zurück. Genug der Betrachtungen über die negativen Auswirkungen der Naturwissenschaften, die durch eine einseitige Zuwendung zu den materiellen Grundlagen der Wirklichkeit entstanden sind. Ich komme nun zu den positiven Auswirkungen der Naturwissenschaften auf unsere Lebensgestaltung. Ich glaube, dass sie überwiegen. Dabei denke ich nicht in erster Linie an die offensichtlichen praktischen Errungenschaften, an die Fortschritte in der Medizin, an Hygiene, Lebensverlängerung, an all den Komfort unseres täglichen Lebens, bis zu Fernsehen, CD, Computer und so weiter – wozu sofort einschränkend beigefügt werden muss, dass alle diese angenehmen Errungenschaften nur einem kleinen Teil der Erdbevölkerung zugutekommen. Der eigentliche Sinn, die eigentliche Bedeutung der Naturwissenschaft in der Menschheitsgeschichte, ihr revolutionärer Sinn dürfte in einer Erweiterung des menschlichen Bewusstseins bestehen, in einer vertieften Einsicht in das Wesen der Wirklichkeit, in die Einheit alles Lebendigen, in die Eingebautheit des Menschen im Biokosmos. Jeder höhere Organismus, Pflanze, Tier oder Mensch, nimmt seinen Ausgang von einer einzigen Zelle, von der befruchteten Eizelle. Die kleinsten Einheiten des Lebendigen, aus denen sich alle Organismen aufbauen, sind die Zellen.

Die pflanzlichen, tierischen und menschlichen Zellen weisen nicht nur eine gleichartige Struktur auf, sondern sie besitzen auch eine weitgehend gleiche chemische Zusammensetzung. Es sind die gleichen Klassen von organischen Verbindungen, die an der stofflichen Zusammensetzung des tierischen und menschlichen Körpers wie der Pflanze beteiligt sind, Eiweiße, Kohlenhydrate, Fette, Phosphatide und so weiter. Diese Einheit der stofflichen Zusammensetzung steht im Zusammenhang mit dem großen metabolischen und energetischen Kreislauf alles Lebendigen, in dem Pflanzen-, Tier- und Menschenreich zusammengeschlossen sind.

Die gesamte Energie, die diesen Kreislauf des Lebens in Gang hält, stammt von der Sonne. Die Pflanze, der grüne Teppich der Pflanzenwelt, vermag in mütterlicher Empfänglichkeit Licht als immateriellen Energiestrom in sich aufzunehmen und in Form von chemisch gebundener Energie zu speichern. Bei diesem Vorgang verwandelt die Pflanze mit Hilfe des Blattgrüns, des Chlorophylls als Katalysator, und Licht als Energiequelle Wasser und Kohlensäure in organische Verbindungen, in Pflanzensubstanz um. Dieser als Photosynthese bezeichnete Prozess liefert über die Pflanze die Bausteine auch für den tierischen und menschlichen Organismus. Alle Lebensprozesse beruhen energetisch auf dieser Lichtnahme durch die Pflanze. Wenn im Menschen die Nahrung beim Verdauungsprozess wieder zu Kohlensäure und Wasser abgebaut wird, wird die gleiche Menge Energie freigesetzt und für den Körper verfügbar, die bei der Photosynthese als Licht aufgenommen wurde.

Mit Licht, als der ursprünglichen kosmischen Energiequelle, baut sich auf und erhält sich alles Leben, das pflanzliche, tierische und menschliche. Auch der Denkprozess des menschlichen Gehirns wird von dieser Energiequelle gespeist, so dass also der menschliche Geist die höchste, sublimste energetische Umwandlungsstufe von Licht darstellt. Wir sind Lichtwesen – das ist nicht nur eine mystische Erfahrung, auf die das Wort Erleuchtung und die Bedeutung des Lichts in vielen Religionen hinweist, sondern auch eine naturwissenschaftliche Erkenntnis. Es gäbe noch beliebig viele andere Beispiele, um zu zeigen, dass Naturwissenschaft und Mystik nicht sich widersprechende, sondern sich ergänzende Erfahrungen beinhalten. Von den tiefen Einblicken in das Wesen der objektiven Wirklichkeit, die wir den Naturwissenschaften verdanken, scheinen mir Erkenntnisse vom Mechanismus unserer Wahrnehmung von besonders großer erkenntnismäßiger Bedeutung zu sein.

Auf diese möchte ich jetzt etwas näher eingehen. Es lohnt sich, diese grundlegenden Erkenntnisse, die in jedem Lehrbuch der Physiologie nachgelesen werden können, sich wieder ins Bewußtsein zu rufen und sie meditativ zu verarbeiten, denn die Sinneswahrnehmungen, Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten, vermitteln uns nicht nur den Kontakt mit der materiellen Außenwelt, sondern sie sind auch die Schlüssel und Tore zur geistigen Welt. Der Mystiker William Blake (1757-1827) sagte dazu: „If the doors of perception were cleansed, everything will appear to man as it is, infinite.“ (Würden die Tore der Wahrnehmung gereinigt, würde der Mensch alles sehen, wie es wirklich ist – unendlich.)

Um die für das Zustandekommen eines Bildes der Außenwelt notwendige Wechselbeziehung zwischen materieller Außenwelt und geistiger Innenwelt des Menschen anschaulich zu machen, kann man den Vergleich heranziehen, wie bei der Fernsehübertragung Bild und Ton entstehen. Die materielle Welt im äußeren Raum arbeitet als Sender, entsendet optische und akustische Wellen und liefert Tast-, Geschmacks- und Geruchssignale. Den Empfänger bildet das Bewusstsein im Inneren des einzelnen Menschen, wo die von den Sinnesorganen, von den Antennen empfangenen Reize in ein sinnlich und geistig erlebbares Bild der Außenwelt umgewandelt werden. Fehlte eines von beiden, der Sender oder der Empfänger, so käme keine menschliche Wirklichkeit zustande, gleich wie beim Fernsehen der Bildschirm leer und ohne Ton bleiben würde. Im Folgenden soll nun dargelegt werden, was wir auf Grund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse von der Physiologie des Menschen hinsichtlich seiner Funktion als Empfänger sowie vom Mechanismus des Empfangens und Erfahrens von Wirklichkeit wissen.

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Leider muss ich Ihre Aufmerksamkeit für kurze Zeit für detaillierte wissenschaftliche Befunde in Anspruch nehmen. Die große Bedeutung derselben mag das rechtfertigen. Die Antennen des menschlichen Empfängers sind unsere fünf Sinnesorgane. Die Antenne für optische Bilder, das Auge, ist in der Lage, elektronisch-magnetische Wellen, Lichtwellen zu empfangen und damit auf der Netzhaut ein Bild zu produzieren, das mit dem Objekt, von dem diese Wellen ausgehen, übereinstimmt. Von dort werden die dem Bilde entsprechenden nervösen Impulse durch den Sehnerv ins Sehzentrum des Gehirns geleitet, wo aus dem bis dorthin objektivierbaren elektrophysiologischen energetischen Geschehen das subjektive psychische Phänomen Sehen resultiert. Sehen ist als psychisches Phänomen naturwissenschaftlich nicht weiter erklärbar.

Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß unser Auge und der innere psychische Bildschirm nur einen sehr kleinen Ausschnitt aus dem riesigen Spektrum der elektromagnetischen Wellen ausnützen, um die Außenwelt sichtbar zu machen. Aus dem elektromagnetischen Wellenspektrum, das Wellenlängen von Milliardstel Millimetern aus dem Bereich der Röntgenstrahlen bis zu Radiowellen von vielen Metern Länge umfasst, spricht unser Sehapparat nur auf den sehr schmalen Bandbereich von 0,4 bis 0,7 Tausendstelmillimeter an. Nur dieser sehr kleine Ausschnitt kann von unseren Augen empfangen und als Licht wahrgenommen werden. Innerhalb des sichtbaren Wellenbereichs sind wir in der Lage, die verschiedenen Wellenlängen als verschiedene Farben wahrzunehmen.

Im äußeren Raum existieren keine Farben. Im allgemeinen ist man sich dieser fundamentalen Tatsache nicht bewusst. Was von einem Gegenstand, den wir als farbig sehen, in der äußeren Welt objektiv vorhanden ist, ist ausschließlich Materie, die elektromagnetische Schwingungen von bestimmten Wellenlängen aussendet. Wenn ein Gegenstand von dem Licht, das auf ihn fällt, Wellen von 0,4 Tausendstelmillimeter reflektiert, dann sagen wir, er sei blau. Sendet er Wellen von 0,7 Tausendstelmillimeter aus, dann benennen wir das optische Ergebnis, das wir dabei haben, als rot. Es ist aber unmöglich, festzustellen, ob beim Empfang einer bestimmten Wellenlänge alle Menschen das gleiche Farberlebnis haben. Die Wahrnehmung von Farbe ist ein rein psychisches, subjektives Erlebnis, das im inneren Raum des Individuums stattfindet. Die farbige Welt, so wie wir sie sehen, existiert objektiv draußen nicht, sondern sie entsteht auf dem psychischen Bildschirm im Inneren des einzelnen Menschen. In der akustischen Welt bestehen entsprechende Beziehungen zwischen einem Sender im äußeren Raum und einem Empfänger im inneren Raum.

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Die Antenne für akustische Signale, das Ohr, weist in seiner Funktion als Teil des menschlichen Empfängers ebenfalls nur einen beschränkten Empfangsbereich auf. Wie Farben existieren Töne objektiv nicht. Was objektiv vom Hörvorgang vorhanden ist, sind wiederum Wellen, wellengleiche Verdichtungen und Ausdehnungen der Luft, die vom Trommelfell des Ohres registriert und im Gehörzentrum des Gehirns in die psychische Erfahrung von Ton umgewandelt werden. Unser Empfänger für akustische Wellen reagiert auf Wellen im Bereich von 20 bis zu 20.000 Schwingungen pro Sekunde, was den tiefsten bis zu den höchsten von uns wahrnehmbaren Tönen entspricht. Auch die anderen Aspekte der Wirklichkeit, welche von den übrigen drei Sinnen, vom Geschmacks-, Geruchs- und Tastsinn erschlossen werden, entstehen durch eine Wechselwirkung zwischen materiellen und energetischen Sendern im äußeren Raum und psychischen Empfängern im inneren Raum des einzelnen Menschen. Ich möchte das hier nicht im Einzelnen beschreiben. Hier gilt es nur festzuhalten, dass Geschmack, Geruch und Tastempfindungen, gleich wie Farben und Töne, objektiv nicht feststellbar sind. Sie existieren nur auf dem psychischen Bildschirm im Inneren des einzelnen Menschen.

Aus diesen Erkenntnissen folgt, daß die Welt, wie wir sie mit unseren Augen und den anderen Sinnesorganen wahrnehmen, eine einzig auf den Menschen zugeschnittene Wirklichkeit darstellt, die bestimmt wird von der Fähigkeit und den Begrenzungen unserer Sinnesempfindungen. Tiere mit unterschiedlichen Sinnesorganen, mit Antennen, die auf andere Impulse reagieren, die vor allem aber einen anderen Empfänger, ein anderes Bewusstsein haben, dem die Fähigkeit des geistigen Erkennens – und damit der Liebe – fehlt, sehen und erleben die Außenwelt völlig anders, das heißt, sie leben in einer anderen Wirklichkeit. Wir können von der Außenwelt nur so viel sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen, wie wir mit unseren beschränkten Sinnen wahrnehmen können. Nur so viel ist für uns wirklich, nur so viel wird Wirklichkeit. Matthias Claudius hat das in einem Gedicht poetisch ausgedrückt: „So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn.“ Die Metapher der Wirklichkeit als Produkt eines Senders und eines Empfängers, legt offen, dass das scheinbar objektive Bild der Außenwelt, das wir als die Wirklichkeit bezeichnen, tatsächlich ein subjektives Bild ist. Diese grundlegende Tatsache besagt, dass der Bildschirm nicht außen, sondern im Inneren eines jeden Menschen sich befindet.

Jeder Mensch trägt sein eigenes, persönliches, von seinem privaten Empfänger erzeugtes Bild der Wirklichkeit in sich. Es ist sein wahres Bild der Welt, weil es das ist, das er mit seinen eigenen Augen und mit den anderen Sinnen wahrnehmen kann. Das Bild der Wirklichkeit als Produkt von Sender und Empfänger erweist sich in besonders bedeutungsvoller Hinsicht aufschlussreich durch den Hinweis auf den Anteil des Empfängers, das heißt, des einzelnen Menschen, an der Wirklichkeitsbildung. Es bringt uns die weltenschöpferische Potenz, die jedem Individuum zukommt, voll zu Bewusstsein. Jeder Mensch ist der Schöpfer seiner eigenen Welt, denn einzig und allein in ihm wird die Erde und das bunte Leben auf ihr, werden die Sterne und der Himmel Wirklichkeit.

Das tönt sehr mystisch, ist mystisch, aber in gleicher Weise naturwissenschaftliche Wahrheit, von jedermann einsehbare, nachprüfbare Tatsache. In dieser wahrhaft kosmogonischen, Weltwirklichkeit schaffenden Fähigkeit ist die wahre Würde des Individuums begründet; in ihr liegt die eigentliche Freiheit und Verantwortung eines jeden Menschen, die weit über die Bedeutung seiner politischen Freiheit und Verantwortung hinausreicht. Wenn ich erkannt habe, was in der Wirklichkeit objektiv außen ist und was subjektiv in mir geschieht, dann weiß ich besser, was ich in meinem Leben ändern kann, wo ich die Wahl habe, und somit, für was ich verantwortlich bin, und andererseits, was außerhalb meiner Macht und meines Willens liegt und als unveränderliche Gegebenheit hingenommen werden muss. Ich bin es, der den Gegenständen, die objektiv in der Außenwelt nur geformte Materie sind, nicht nur ihre Farbe, sondern durch meine Zuwendung und Liebe auch ihre Bedeutung gibt. Das gilt nicht nur für die leblose Umwelt, sondern auch für die lebenden Geschöpfe, für Pflanzen und Tiere und für meine Mitmenschen.

Diese Klärung meiner Zuständigkeit ist eine unschätzbare Lebenshilfe. Noch auf eine weitere Einsicht, die das Sender-Empfänger-Modell der Wirklichkeit vermittelt, möchte ich hinweisen. Es macht die grundlegende Tatsache anschaulich, dass die Wirklichkeit kein festumrissener Zustand ist, sondern das Ergebnis von kontinuierlichen Prozessen, bestehend aus einem kontinuierlichen Input von materiellen und energetischen Signalen aus dem äußeren Raum und ihrer kontinuierlichen Dechiffrierung, das heißt Umwandlung in psychische Erfahrungen und Wahrnehmungen, im inneren Raum. Wirklichkeit ist ein dynamischer Prozess: Sie entsteht stets neu in jedem Augenblick. Eigentliche Wirklichkeit gibt es also nur im Hier und Jetzt, im Augenblick. Das erklärt, warum das Kind, das viel mehr im Augenblick lebt als der Erwachsene, ein wirkliches Bild der Welt wahrnimmt. Dem Kindheitsparadies kommt mehr Wirklichkeit zu als dem Welterleben der Erwachsenen. Darin liegt eine tiefe Bedeutung, wie sonst hätte Jesus gesagt: „Denn ihrer ist das Himmelreich“?

Das Erleben der wahren Wirklichkeit im Augenblick ist ein Hauptziel der Mystik. Hier treffen sich kindliches und mystisches Welterleben. Dazu ein barockes Gedicht von Andreas Gryphius: Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen. Mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen. Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in acht, So ist der mein, der Zeit und Ewigkeit gemacht. Wäre die Wirklichkeit nicht das Ergebnis ununterbrochener Veränderungen, sondern ein stationärer Zustand, dann gäbe es nicht nur keinen Augenblick, es gäbe auch keine Zeit, denn Zeitempfindung entsteht nur durch die Wahrnehmung von Veränderung. Der prozesshafte Charakter der materiellen Wirklichkeit schafft die Zeit. Diese Einsicht in das Wesen der Zeit, wie auch die genannten Einblicke in andere fundamentale Gegebenheiten der Wirklichkeit dürften gezeigt haben, daß es sich gelohnt hat, etwas eingehender über den von der Naturwissenschaft aufgeklärten Mechanismus der Wahrnehmung nachzudenken. Zum Schluß noch eine weitere Einsicht aus dem Sender-Empfänger-Modell der Wirklichkeit.

Es geht um Kommunikation, die für unser Menschsein so wichtig ist. Ich meine nicht Kommunikation, die uns durch die Massenmedien, Radio und TV vermittelt wird, sondern es geht um die existenziellen, durch unsere Körperlichkeit gegebenen Grundlagen der Kommunikation. Ich habe dargelegt, wie wir als Empfänger von materiellen und energetischen Impulsen aus der Außenwelt diese erleben. Wir sind aber nicht nur Empfänger von Botschaften aus der Außenwelt, sondern als Teil dieser Außenwelt auch Sender. So wie ich Empfänger bin für die Botschaft meines Mitmenschen, so bin ich umgekehrt für ihn Sender. Ich kann ihm mein Anliegen, auch ein rein geistiges, einen Gedanken oder meine Liebe, nur durch das, was den Sender charakterisiert, nämlich über Materie und Energie, durch meinen Körper übermitteln. Auch wortloses Einverständnis, das sich durch den Blick oder zartes Berühren ausdrückt, kann eben nur durch materielle Augen, materielle Finger, durch die materiellen Körper der sich liebenden Partner ausgedrückt werden. Ohne Materie und Energie wäre Kommunikation nicht möglich. Das gilt nicht nur für die zwischenmenschlichen, sondern auch für die kosmischen Beziehungen.

Der Schöpfer kann uns seine Botschaft auch nur über den großen Sender, über seinen Sender, über die Schöpfung, über den materiellen Kosmos zukommen lassen. Der große Arzt, Forscher und Philosoph Paracelsus nannte die Schöpfung ein Buch, das der Finger Gottes geschrieben hat, in welchem zu lesen wir lernen müssen. Es enthält die Botschaft aus erster Hand. Es ist die Botschaft der Unendlichkeit des Sternenhimmels und der Schönheit unserer Erde mit all ihren wunderschönen Geschöpfen. Die Naturwissenschaften entziffern immer neue Texte dieser Botschaft, und der religiöse Mensch erfährt in der Meditation, in der mystischen Schau ihre Ganzheit und damit das Wunder unserer Existenz. Das könnte die Grundlage einer neuen, erdumfassenden Spiritualität werden. Dazu abschließend ein Zitat aus der Schrift „Sadhana“ von Rabindranath Tagore: „Durch den Fortschritt der Naturwissenschaften wird die Ganzheit der Welt und unser Einssein mit ihr unserem Geist immer klarer. Wenn diese Erkenntnis von der vollkommenen Einheit nicht nur eine intellektuelle Erkenntnis ist, wenn sie unser ganzes Sein erschließt für ein helles Allbewusstsein, dann wird sie zu strahlender Freude, zu einer allumfassenden Liebe.“

Dieser Artikel ist das Manuskript der „Volkspredigt“, die der damals 84-jährige Albert Hofmann, der Entdecker des LSD, im Jahre 1990 in der Leonhardskirche in Basel gehalten hat. Ursprünglich erschienen als Broschüre im „Grünen Zweig“ von Werner Pieper.

Naturwissenschaft & mystische Welterfahrung: Eine Volkspredigt von Albert Hofmann

Quelle: geomantie.de

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