Die Verweigerer: Abitur ohne Schule

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Die Geschwister Esra, Noah und Amy gehen nicht zur Schule, sie reisen lieber mit ihren Eltern um die Welt. Jahrelang umschiffte die Familie die deutsche Schulpflicht. Der älteste Sohn schaffte trotzdem das Abi mit 1,8.

Der vierte Satz von Beethovens 7. Sinfonie ist stürmisch, und Esra Reichert, 20 Jahre alt, will ihn bändigen. Seine Mutter lenkt das Auto, er sitzt auf dem Beifahrersitz, seine Finger liegen auf dem Lautstärkeregler.

(Foto: „Unser Zusammenhalt ist überdurchschnittlich stark“, sagt Gunter Reichert)

Erscheint Esra das Orchester zu laut, dreht er runter. Bei seinen Lieblingsstellen dreht er auf. „Wenn wir diese Musik hören, dann denkt die ganze Familie an Schottland“, sagt Esra. „Auf der Isle of Lewis haben wir das immer gehört.“
Was nach Sommerferien klingt, war für Esra und seine Familie keine Auszeit, es war der Alltag: Mit 15 Jahren hörte der Junge auf, zur Schule zu gehen. Zur gleichen Zeit stiegen auch seine Geschwister aus, Noah in der achten, Amy in der fünften Klasse. Die Eltern packten die Kinder ein – und reisten.

Vater Gunter Reichert gab dafür seinen Job als Biologielaborant auf, beide Eltern arbeiteten fortan als Reisefotografen. Monatelang waren die Reicherts in Norwegen, Frankreich und Schweden unterwegs. Die Kinder fangen Fische, anstatt in der Schule zu lernen. Sie bauen Zelte, übernachten mit den Eltern in einem Leuchtturm, wohnen bei Meeresbiologen. Zu Hause in Bubenheim bei Mainz sind sie nur selten. In den wenigen Wochen, in denen sie es sind, plagt sie Fernweh, so erzählen sie es.

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(Statt in der Schule zu sitzen, packte Esra in Schottland mit an – auf der Isle of Lewis half er, den Strand aufzuräumen)

Immer Theater mit der Schule

Wenn es in den Jahren davor um Schule ging, habe es meist Ärger im Hause Reichert gegeben, berichten die Eltern. Esra sagt, er habe den Unterricht immer als langweilig empfunden, wurde zeitweise auch gemobbt. „Ein paar Jungs hänselten mich, weil ich ihnen wohl zu klein war und sie meinen Namen lustig fanden“, sagt er. Seine Geschwister erzählen ähnliche Geschichten. Amy, 16, meint, dass „die in der Schule nicht waren wie ich“. Und Noah, 18, litt unter dem Lärm und dem Chaos im Klassenzimmer, verweigerte die Schule komplett. Er habe dort nicht effektiv lernen können, sagt er.

Das Problem der Reicherts: In Deutschland gilt seit 1919 Schul- und Berufsschulpflicht. Sie dauert mindestens neun, in Rheinland-Pfalz sogar zwölf Jahre und muss von den Erziehungsberechtigten durchgesetzt werden. Wer seine Kinder also einfach zu Hause lässt, macht sich strafbar, auch wenn er sie dort unterrichtet. „Kinder, die zu Hause bleiben, erleben nur ihre familiären Kreise, begegnen aber nicht den anderen Lebensmodellen, die um sie herum existieren“, sagt dazu Torsten Heil, Sprecher der Kultusministerkonferenz. Vater Gunter Reichert sieht das anders: „Keine Schule kann den Kindern so viel bieten wie eine Reise.“

Auch für Kinder, deren Eltern beruflich reisen müssen, gilt zwar die Schulpflicht, allerdings gibt es für sie spezielle Regelungen: Kinder von Schaustellern etwa werden während der Grundschulzeit in sogenannten Stützpunktschulen betreut, oder sie besuchen eine deutsche Schule im Ausland. Eine weitere Möglichkeit: Ein Kind kann an einer in Deutschland anerkannten Fernschule lernen. 2010 meldeten die Reicherts ihre Kinder in Deutschland ab, weil sie mehr auf Reisen als zu Hause waren. Als Fernschule wählten sie die Clonlara-Schule, bei der sie bis heute geblieben sind. Clonlara ist unter Eltern, die mit der Schulpflicht Probleme haben, bekannt.

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(Auf der norwegischen Insel Litløy lebten die Reicherts weitgehend als Selbstversorger. Das heißt: Alle müssen mithelfen, zum Beispiel bei der Kartoffelernte)

Anhänger des in den USA weit verbreiteten Homeschooling wie die Bremer Schulpflichtgegner Neubronner wählen gerne Clonlara, wenn ihre Kinder nicht mehr zur Schule wollen oder sollen. Die Gründe sind unterschiedlich: Manche Eltern lehnen einfach das System Schule ab, anderen geht es um Unterrichtsinhalte wie Toleranz und Sexualaufklärung, die ihrem religiösen Weltbild zuwiderlaufen.

Esra sagt, seine Familie sei nicht religiös. In ihrem Haus sitzen die Reicherts an einem Esstisch, der mit einer Weltkarte gedeckt ist. Vor der Haustür steht ein Wohnmobil. Das sei schon etwas in die Jahre gekommen, sagt Gabi Reichert. Das gelbe Kanu in der Garage sei ein Geschenk von Freunden, das hätten sie sich selbst nie leisten können. Von dem Verkauf ihrer Fotos könnten sie leben, aber einfach sei das nicht. Auf Reisen arbeiten sie auch mal als Freiwillige, ernten Gemüse oder helfen bei Renovierungsarbeiten. Damit seien dann auch oft die Übernachtungskosten abgedeckt, sagt Gabi Reichert.

Die Familie wird nicht lange zu Hause sein, bald geht es für sechs Wochen in die Bretagne. Heute ist noch Leben im Haus, es gibt Chili con Carne zu Mittag – jeder hilft mit, einer deckt, einer schält, einer rührt um. „Der Zusammenhalt in dieser Familie ist überdurchschnittlich stark“, sagt Gunter Reichert.

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(Während andere Jugendliche in Deutschland vor Schulbüchern hingen, hingen Noah, Esra und Amy in Schottland ab und wanderten – wie hier auf der Isle of Skye)

Eingepfercht im Klassenzimmer

Was machen Eltern, wenn jedes ihrer Kinder leidet? Alle drei aus der Schule zu nehmen, das sei ein jahrelanger harter Denkprozess gewesen, sagt Gabi Reichert. Sie sprechen mit Psychologen, das hilft nichts. Sie denken nach über Schulwechsel, das wollen die Kinder nicht. Sie diskutieren mit dem Jugendamt. Sie reisen mit den Kindern zur Probe durch Europa, um anschließend festzustellen, wie gut sich das für alle anfühlt. „In der Schule saß ich eingepfercht mit 30 Leuten, mit 27 von denen hatte ich nichts zu tun“, sagt Esra. Er habe dort weg gewollt. „Mein Verhältnis zu Menschen hat sich gebessert, seit ich mir selbst aussuchen kann, mit wem ich was mache.“

Esra sitzt auf seinem Sofa, die Hände liegen ruhig im Schoß. Den Beistelltisch aus hellem Holz hat er sich selbst gezimmert, im Regal steht ein Schachbrett, daneben eine Formelsammlung. An der Wand seines Zimmers hängen Noten, es ist wieder die 7. Sinfonie von Beethoven. Manchmal stehe er in seinem Zimmer und spiele Dirigent, sagt er.

Esra nimmt seinen Lernordner vom Abi und blättert. Er habe sich den gesamten Stoff der Oberstufe selbst beigebracht, von der Fernschule wurde er lediglich beraten, erzählt er. Das Abi schaffte er im Frühjahr 2014 als externer Schüler an einem Gymnasium in Baden-Württemberg, vier schriftliche Prüfungen und acht mündliche. Notendurchschnitt: 1,8. Seine Geschwister, ebenfalls von Clonlara betreut, planen einen Realschulabschluss.

Esra sagt, er habe sich erstklassig vorbereitet gefühlt. Nur die letzten Monate vor der Prüfung habe er intensiv gelernt. Englisch habe er sich beim Reisen angeeignet. Und wie sich Schallwellen unter Wasser verhalten, erklärte ihm eine Walforscherin in Norwegen.

Rückkehr an die Schule: „Die haben mich so gut aufgenommen“

Andere junge Menschen in seinem Alter sind süchtig nach ihren Smartphones, tanzen vielleicht bis morgens in Clubs, hängen ab in der WG nebenan, machen Sport im Verein. Fehlt ihm denn nichts? Esra sagt, er trinke ab und zu mal ein Bier, surfe auch auf YouTube und schreibe ins Reiseblog seiner Eltern. Er tippt auf das Sofa, auf dem er sitzt und sagt: „An Silvester hocken hier zehn Leute. Jeder steckt mal sein Handy in die Anlage.“ Und mit Nachdruck: „Ich bin normal, kein Schulverweigerer. Ich wollte einfach nur anders lernen.“

Aber wie lernen Kinder, die in einem Wohnmobil durch die Welt reisen, mit Sorgen umzugehen, und daraus für das spätere Leben zu lernen? Was ist mit Liebeskummer oder dem ganz normalen Streit mit dem besten Kumpel? „Hatte ich alles. Ich habe nichts verpasst“, sagt Esra. Er habe viele Ideen, was er mit seinem Leben anstellen könnte: Psychologie, Design oder Geologie studieren – aber wann und was, darauf will sich Esra nicht festlegen. „Ich werde immer reisen wollen. Ganz sicher.“

Als er für die Abiprüfung nach Jahren wieder eine Schule betrat, da habe er sich sehr wohlgefühlt, erzählt er. Es sei anders gewesen als früher, die Atmosphäre habe sich viel angenehmer angefühlt. „Die Lehrer und die Leute, die waren so freundlich. Die haben mich so gut aufgenommen.“

Quelle: PublicDomain/SPON vom 18.02.2015

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