Immer mehr Menschen in Deutschland haben keine Bleibe, weil Wohnraum knapper und teurer wird.
Momentan sind bundesweit etwa 280 000 Menschen ohne Wohnung. Bis 2016 soll diese Zahl noch mal um 100 000 ansteigen.
Auch zunehmend junge Leute sind betroffen.
Harald Schnett weiß nicht, wohin mit sich. Wenn andere morgens die Wohnungstür zuschlagen und sich auf den Weg zur Arbeit machen, schlägt Harald Schnett nur eine Autotür zu. Doch nicht mal die gehört ihm. Seit mehreren Wochen lebt der 56-Jährige in einem geparkten Kleinbus, ohne Heizung, ohne Strom. Eine Bekannte hatte ihm das Auto geliehen, als Schnett wegen eines Streits mit anderen Bewohnern sein Zimmer in einem Münchner Obdachlosenheim verlor. „Dabei konnte ich da nichts dafür, schon wieder“, sagt Schnett, und es klingt, als hätte er diesen Satz schon viele Male in seinem Leben gesagt. Ob er immer stimmt, ist eine andere Frage. Eine von vielen.
Denn wie lange Schnett keine Wohnung mehr hat, weiß er heute nicht mehr: acht, zehn, oder waren es doch elf Jahre? Er verlor damals seinen Hausmeisterjob, kurz danach war auch die Wohnung weg. „Na toll“, sagt Schnett, wenn er darüber spricht. Er versucht den Gram in seinem Gesicht wegzulächeln. Es misslingt. Auf der Straße geschlafen habe er so gut wie nie, immer bekam er am Ende einen Schlafplatz bei Bekannten, in einer Notunterkunft oder später einem Wohnheim. Aber eine Wohnung? Nein, die war nie in Aussicht, antwortet er. Kein Geld, keine Arbeit, keine Wohnung – keine Wohnung, kein Job.
Arme als auch reiche Städte trifft es gleichermaßen
4500 akut Wohnungslose zählt München momentan, nach Angaben des örtlichen Amtes für Wohnen und Migration kommen jeden Monat 40 bis 60 Menschen hinzu. Trotz wirtschaftlicher Stärke schafft die Stadt es nicht, all ihre Bewohner unterzubringen. Denn Wohnungslosigkeit ist schon lange nicht mehr nur ein Problem der wirtschaftsschwachen Städte, wie zum Beispiel Athen. Dort ist aufgrund der jahrelangen Rezession im Land und der hohen Arbeitslosigkeit die Zahl der Wohnungslosen seit 2009 um 25 Prozent gestiegen. Mittlerweile liegt sie Schätzungen zufolge bei mehr als 10 000 Menschen. Die wohlhabenden Städte aber stehen vor den gleichen Herausforderungen, wenn auch aus anderen Gründen: Hier sind es der Reichtum und das Wachstum, die dafür verantwortlich sind, dass es nicht mehr selbstverständlich ist, eine Wohnung zu haben.
Arme als auch reiche Städte trifft es gleichermaßen, in ganz Deutschland nimmt die Zahl der Wohnungslosen zu. Im Jahr 2012 waren den jüngsten Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zufolge etwa 280 000 Menschen wohnungslos, bis 2016 soll die Zahl noch mal um 100 000 ansteigen. Wohnungslosigkeit ist allerdings nicht gleich Obdachlosigkeit. Als obdachlos gilt, wer auf der Straße schläft, also „Platte macht“. Akut wohnungslos ist, wer keine durch einen Mietvertrag abgesicherte Wohnung und keine Eigentumswohnung besitzt. Nordrhein-Westfalen führt bisher als einziges Bundesland eine Statistik, offizielle Erhebungen für die gesamte Bundesrepublik gibt es deshalb nicht. In die Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe fließen unterschiedliche Faktoren mit ein, zum Beispiel Mietpreise oder Zwangsräumungen.
Die kleinen Wohnungen wollen nicht mehr nur diejenigen mit kleinem Einkommen
Die Zahl der Wohnungslosen nimmt zu, weil Wohnraum immer knapper und teurer wird. Nicht nur in den Großstädten, sondern auch in Klein- und Mittelstädten fehlt es an preiswerten, kleinen Wohnungen. „Gerade bei denen gibt es eine besondere Konkurrenzsituation: Die wollen nicht mehr nur diejenigen mit geringem Einkommen – sondern auch die Singles, die gut verdienen“, sagt Werena Rosenke von der Bundesarbeitsgemeinschaft. Vor allem Hartz-IV-Empfängern würden die hohen Mieten wegen der Mietobergrenzen zusetzen – werde die Mieterhöhung vom Job-Center als nicht angemessen eingestuft, müsse sie der Arbeitslose aus eigener Tasche zahlen. Oder sich eine neue, günstigere Wohnung suchen.
Harald Schnett, der in Wirklichkeit anders heißt, doch anonym bleiben möchte, hätte gerne wieder eine solche günstige Wohnung, irgendwann. Das Auto ist nur eine Übergangslösung, in ein paar Wochen will die Bekannte es zurück. Momentan beginnt jeder seiner Tage früh und endet früh, wie damals in seiner Jugend, als er während der Lehre mitten in der Nacht in der Backstube stand. Heute verlässt der 56-Jährige gegen vier Uhr den Bus, steigt auf sein Rad und fährt seine gewohnte Route ab, von Container zu Container. Flaschen sammeln, um die Sozialhilfe von monatlich etwa 390 Euro aufzubessern. Eine Etappe endet, wenn der Rucksack voll ist. Schnett selbst sagt, dass er beim Amt für Wohnen und Migration schon lange auf einer Warteliste für eine Sozialwohnung stehe – doch bisher trotz generellen Anspruchs immer vertröstet wurde.
Der Boom der Städte
Ein Besuch in der Franziskanerstraße an einem anderen Tag, an einem anderen Abend. Die meisten Mitarbeiter sind bereits auf dem Nachhauseweg, die Gänge sind leer, doch Rudolf Stummvoll, Leiter des Münchner Amts für Wohnen und Migration, sitzt noch immer in seinem Büro im vierten Stock. Der 60-Jährige blickt aus dem Fenster, während er spricht. Fast, als wolle er seine leisen, bedächtig klingenden Worte an die Stadt richten und nicht an seinen Besucher: „Dieses Amt ist mehr als 100 Jahre alt. Wenn du Geld hattest, konntest du in dieser Stadt schon immer gut leben, auch heute – aber sonst? Irgendwann wird München an seinem eigenen Erfolg ersticken, wenn es nicht gelingt, das Wohnungsproblem zu lösen.“ Es klingt nicht verbittert, wenn Stummvoll das sagt. Nur ehrlich.
Wenn man den Erfolg einer Stadt daran misst, ob sie für Menschen attraktiv ist, dann hat München Erfolg: Der Nettozuzug – die Fortzüge sind von diesen Zahlen schon abgezogen – liegt derzeit bei 25 ooo bis 30 000 Menschen im Jahr. Sie alle drängen in die Stadt, in die Wohnungen und Häuser. Doch wer zu wenig Geld hat, um die Kaltmiete von im Schnitt mehr als zehn Euro pro Quadratmeter zu zahlen oder sich gar eine eigene Wohnung zu kaufen, hat es schwer: 90 Prozent der Münchner Wohnungen sind in Privatbesitz. 10 Prozent bleiben der Stadt. Zu wenig.
Die Stadt als Projektionsfläche in einer individualisierten Gesellschaft
Immer und immer wieder zu wenig. Stummvoll blickt aus dem Fenster. Wäre die Wohnungsnot in Städten wie München weniger groß, wenn mehr Leute bereit wären, in den Randgebieten zu wohnen? Nein, sagt Stummvoll und schüttelt den Kopf. Wer bei ihm durch die Tür tritt, muss bereits bis weit in den Speckgürtel hinein nach Wohnungen gesucht haben, muss Absagen und Annoncen vorweisen, sein gesamtes Einkommen offenlegen. Erst dann bringt die Landeshauptstadt einen unter, oder besser gesagt, versucht es: 20 000 Menschen haben sich in diesem Jahr beim Amt um eine Wohnung bemüht, 13 000 von ihnen haben die Anforderungen erfüllt und eine Vormerkung erhalten, 9000 davon waren besonders dringlich. Doch nicht einmal für die Hälfte all dieser dringenden Fälle haben die Wohnungen gereicht: „3500 geförderte Wohnungen haben wir in diesem Jahr vergeben“, sagt Stummvoll. Er weiß, es reicht nicht.
Dass die Städte boomen, während auf dem Land immer mehr Häuser leerstehen, liegt nicht nur an den wirtschaftlichen Vorteilen, die die Städte bieten: mehr Unternehmen, mehr Arbeitgeber. Sondern auch am subjektiven Lebensgefühl, das die Großstädte verheißen, sagt der Stadtsoziologe Florian Schmidt. Er ist Mitgründer der Initiative „Stadt neu denken“ in Berlin und seit Kurzem Atelierbeauftrager der Hauptstadt: „Das Individuum findet in den Städten eine Vielfalt von Lebensentwürfen, an denen es sich orientieren kann. Die Städte werden zur Projektionsfläche der individuellen Sinnsuche in unserer Konsumgesellschaft. Deshalb drückt vor allem die Wissens- und kreative Elite in die Innenstädte – und verdrängt andere.“
Auch Berlin, das lange für billige Mieten bekannt war, kämpft wie so viele deutsche Städte mit der Wohnungslosigkeit: Die Nettokaltmieten sind im vergangenen Jahr doppelt so stark gestiegen wie im Bundesdurchschnitt. Nach Angaben der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales sind momentan etwa 12 000 Menschen ohne Wohnung. Nicht alle leben in Heimen, manche auch in Pensionen oder Hostels. Während der kalten Monate richten die Bezirke der Stadt jedes Jahr bis zu 500 Notschlafplätze ein, in diesem Jahr sollen es 600 sein. Noch reicht das, da die Temperaturen relativ milde sind. Doch das kann sich schnell ändern. „Das Wohnungsproblem hat massiv zugenommen. Immer mehr Menschen kommen in unsere Beratungen, all unsere Einrichtungen sind nahezu voll ausgelastet“, sagt Kai Gerrit-Venske, Referent der Berliner Caritas für Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe.
In der Hauptstadt bietet die Caritas unter anderem betreutes Einzelwohnen an; Menschen im Anschluss eine Wohnung zu vermitteln, werde allerdings immer schwieriger. „Unsere Mitarbeiter sind mittlerweile mitunter mehr Makler als Sozialarbeiter“, sagt Venske. Eigentlich habe Berlin zwar ein sehr dichtes Netz, von Streetwork bis hin zur stationären Betreuung. Aber das System komme an seine Grenzen. Das zeige das veränderte Stadtbild, sagt Venske: „Unter den S-Bahn-Brücken schliefen früher ein paar Einzelne, heute sind es ganze Gruppen.“
Noch in der Ausbildung, schon wohnungslos
In München merken die Sozialarbeiter und Ehrenamtlichen der Teestube „Komm“ ebenfalls, dass sich etwas verändert hat. An diesem Nachmittag ist wie so oft jeder Tisch besetzt, manche der Gäste haben ihren Kopf in den verschränkten Armen verborgen und versuchen ein wenig Ruhe zu finden, andere gehen von Tisch zu Tisch und grüßen mit vertrautem Handschlag. Wer keine Wohnung hat, der kann sich hier in der Teestube aufwärmen, eine warme Mahlzeit zubereiten, Kleidung waschen.
Dass die Listen für Küche und Dusche voll sind, ist kein neues Phänomen. Doch viele, die sich auf diesen Zetteln eintragen, sind neu: „Es kommen mittlerweile immer mehr zu uns, die erst vor Kurzem wohnungslos geworden sind, also nicht nur die typischen Obdachlosen mit Rauschebart, die man sich gemeinhin so vorstellt“, sagt Franz Herzog, der die Einrichtung des Evangelischen Hilfswerkes leitet. Zunehmend junge Leute seien dabei, die noch während der Ausbildung ihre Wohnung verloren haben oder arbeitslos und damit auch wohnungslos geworden sind. Gerade die würden sich oft nicht immer trauen, die eigene Notsituation vor Freunden zuzugeben, sagt Herzog. Vor der Küche wartet wenig später eine junge Frau, die dunklen Haare hat sie zum Zopf nach oben gebunden. Auch hier innen trägt sie trotz Wärme eine dicke Steppjacke, ihre Stofftasche mit Topf und Pfanne drückt sie fest gegen ihren Bauch. Den Blicken der anderen weicht sie aus. Wer sie anspricht, hört: „Ist jetzt ganz schlecht, ist jetzt schlecht, ich bin gerade beschäftigt.“ Ihre Stimme zittert dabei, ihre Tasche umklammert sie noch ein wenig fester.
Ausgespuckt von den Großstädten
Momentan bleiben Herzog zufolge viele länger in den Obdachlosenheimen als nötig, da keine Wohnungen frei werden. Eine bedenkliche Entwicklung, die sich auch in anderen Städten abzeichnet, sagt Stadtsoziologe Florian Schmidt: „Gerade diejenigen, die zahlungsschwach oder in den schönen Wohnwelten nicht gern gesehen sind, haben es nun besonders schwer. Sie werden von den Großstädten wieder ausgespuckt.“ Doch eine Stadt lebt von einer Mischung, von Vielfalt statt Uniformismus. Wenn sich nur noch eine bestimmte Klientel das Leben in der Stadt leisten kann, führt das zu einer klaren Trennlinie quer durch die Gesellschaft. „Bedenklich“, sagt Schmidt.
Diese Trennlinie spürt Harald Schnett schon jetzt. Noch immer wohnt er in seinem geparkten Kleinbus. Er fürchtet die Kälte, die in den kommenden Wochen hereinbrechen könnte. „Ich habe Angst, dass mir die Füße wegfrieren.“ Er hofft, dass er irgendwann wieder ein Türschloss zu seiner eigenen Wohnung aufsperren wird. Mit seinem eigenen Schlüssel. „Das wäre das Größte“, sagt er. Doch noch ist das sehr weit weg. Noch weiß Schnett nicht einmal, was passiert, wenn er den Bus verlassen muss. Er weiß noch immer nicht, wohin mit sich.
Quellen: dpa/sueddeutsche.de vom 25.12.2014
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Also ich weiß nicht. In Deutschland muss niemand auf der Straße leben. Auch nicht nach Verlust des Jobs. Das Sozialsystem verhindert das immernoch. Wer heut auf der Straße sitzt (mal abgesehen „illegalen“ Einwanderern o.ä. ) hat sich dafür entschieden. Zum Beispiel weil er zu stolz ist zum Jobcenter zu gehen.