Obdachlose Kinder in Deutschland gibt es nicht. Zumindest nicht offiziell, denn bis zum 18. Lebensjahr gelten Jugendliche als „obhutlos“, werden im Zweifel formal der Wohnadresse ihrer Herkunftsfamilie zugerechnet. Doch die Realität sieht ganz anders aus, wie die „ZDFzoom“-Reportage „Obdachlose Kinder in Deutschland“ zeigt.
Die Bundesregierung verkündete zuletzt 2005 offizielle Zahlen. Damals war von 7200 obdachlosen Kindern und Jugendlichen die Rede. Heute gibt es Schätzungen, dass die Zahl der Heranwachsenden ohne festen Wohnsitz zwischen 9000 bis 20.000 liegt. Viele von ihnen leben in Berlin, verbringen ihre Zeit lieber auf dem Alexanderplatz als in ihren zerrütteten oder gewalttätigen Familien. Streetworker sprechen aktuell wieder von einer „Verjüngung auf der Straße“.
(Foto: Schätzungen zufolge gibt es in Deutschland bis zu 20.000 Straßenkinder – die meisten in Berlin. Eine von ihnen ist Hannah, die hier ZDF-Reporterin Stephanie Gargosch ihren Schlafplatz zeigt. Wie so viele andere Straßenkinder wurde auch Hannah vom Jugendamt enttäuscht)
Tausende Kinder in einem Wohlstandsland auf der Straße – wie kann das sein? Hat Deutschland diese Jugendlichen aufgegeben?
Hannah: „Man sieht Dinge, die man nicht sehen will“
ZDF-Reporterin Stephanie Gargosch begleitet mehrere obdachlose Kinder in ihrem Alltag. Eine von ihnen ist Hannah aus München, 17 Jahre alt. Sie sagt: „Ich bin auf die Straße gegangen, weil ich keine andere Möglichkeit hatte.“
Immer wieder hatte sie sich heftig mit ihrer Mutter gestritten, bis sie sich mit 14 Jahren ans Jugendamt wendete. Sie hat dann ihren ersten Antrag auf Jugendhilfe gestellt. Aber ihr sei nie richtig geholfen worden, klagt sie an. Es folgten mehrere psychologische Gutachten über die Mutter, die alle empfahlen, Hannah aus der Familie zu nehmen. Aber genau das geschah nicht. Stattdessen genehmigte das Jugendamt nur eine ambulante Erziehungshilfe. „Das führte dazu, dass einmal in der Woche jemand mit mir und meiner Mutter redete, oft sogar nur mit mir“, erklärt Hannah enttäuscht. „Also nicht viel mehr als eine bezahlte Freundin.“
Zu Beginn der Reportage war Hannah gerade zum dritten Mal aus München weggelaufen – nach Berlin, auf die Straße. Was Hannah sucht, ist eine dauerhafte Lösung, sie will heimisch werden können und nicht zurück zur Mutter oder in eine Notfallunterkunft für Jugendliche. Um Druck auf das Jugendamt auszuüben, lebt sie lieber auf der Straße. Obwohl sie inzwischen weiß, wie hart das ist: „Wer einen schwachen Körper, einen schwachen Charakter, vor allem eine schwache Psyche hat, hält das nicht aus. Denn man sieht Dinge, die man nicht sehen will“, berichtet die Jugendliche und ergänzt auf Nachfrage: „Es können Leute direkt neben dir sterben.“
Greeny fühlt sich im Stich gelassen
Ein anderer Fall ist der Teenager, den sie nur Greeny nennen. Auch er ist 17 und seit fünf Jahren obdachlos. Greeny lebt in Essen – abwechselnd bei Freunden, der Notfallstelle für Jugendliche oder auf der Straße.
Schon oft habe er versucht, über das Jugendamt einen Platz in einer Wohngruppe oder einem Heim zu bekommen: „Es hieß immer, wir kümmern uns darum. Aber es kam nie etwas.“ Wie so viele andere Straßenkinder fühlt sich Greeny vom Jugendamt im Stich gelassen. Er wünscht sich mehr Kommunikation und Verbindlichkeit vom Amt, auch mehr individuelle Angebote.
Jugendämter kommen ihrer Pflicht nicht nach
Hat wirklich das Jugendamt bei diesen Kindern und Teenagern versagt? Die Redaktion von „ZDFzoom“ macht einen Test: Eine Mitarbeiterin gibt sich als Jugendliche aus und ruft bei mehreren deutschen Jugendämtern an. Sie erzählt am Telefon, dass sie unbedingt von zu Hause weg müsse, Angst vor ihrer Mutter habe und woanders unterkommen müsse. Was sie zu hören bekommt, sind Aussagen wie „Ich muss in einer halben Stunde nach Hause“, „Sorry, aber der Kollege ist krank“, „Wenn du Probleme hast, geh‘ halt zur Polizei, wir sind nicht zuständig“.
Nur eines von zehn Jugendämtern bietet unverzüglich Hilfe. Dabei verlangt es sogar das Gesetz: Das Jugendamt ist verpflichtet, einen Minderjährigen in Obhut zu nehmen, wenn er darum bittet. Geschieht das nicht, ist das ein klarer Rechtsbruch.
Familienministerin gesteht großen Nachholbedarf
Doch es besteht Hoffnung für Jugendliche wie Greeny. Im September 2014 fand erstmals der Bundeskongress für Straßenkinder in Berlin statt. Deutschland solle endlich sehen, dass es auch hier Straßenkinder gibt: In Arbeitsgruppen diskutierten Betroffene aus dem ganzen Land zwei Tage lang über ihre Situation und ihre Zukunft.
Dabei wurde ein Ideen- und Forderungskatalog erstellt, der kurze Zeit später an Bundesfamilienmisterin Manuela Schwesig weitergereicht wird. Es ist das erste Mal, dass es zu einem Kontakt zwischen Straßenkindern und der deutschen Politik kommt. Schwesig gesteht dem ZDF, dass der Bund viel zu wenig wisse und dringend herausfinden müsse, warum es junge Menschen gibt, die „durch das Netz des Kinderschutzes rutschen“.
Die Ministerin verspricht Unterstützung: 400.000 Euro sollen für zwei Jahre auf vier Straßenkinder-Projekte in Berlin verteilt werden. Für Greeny, der bei dem Treffen mit Schwesig dabei ist, immerhin ein Anfang.
„Housing-First“: ein Konzept für Deutschland?
Andere Länder in Europa sind Deutschland in der Bekämpfung der Obdachlosigkeit voraus. Als Paradebeispiel nennt „ZDFzoom“ Dänemark: Schnell und unbürokratisch bekommen obdachlose Jugendliche eine Unterkunft gestellt. Ihnen werden auch Betreuer zugewiesen, die notfalls rund um die Uhr für sie da sind. Der Ansatz besagt, dass eine stabile Unterkunft am wichtigsten ist und andere Angelegenheiten erst anschließend angegangen werden sollten.
Infolge dieser sogenannten „Housing-First“-Strategie fanden 90 Prozent der ehemals Obdachlosen in die Gesellschaft und schließlich in die Arbeitswelt. Ein Konzept, das sich laut der dänischen Behörden lohnt: Es macht andere Einrichtungen für Obdachlose überflüssig und sorgt dafür, dass viele der Begünstigten zu Steuerzahlern werden.
Auch ein Modell für Deutschland? Erste Versuche sind bekannt. Allerdings ist betreutes Einzelwohnen in Deutschland noch immer die Ausnahme. Den ZDF-Reportern zufolge fehlt es größtenteils noch immer an maßgeschneiderten Lösungen und Wegen weg von der Straße.
Zudem wird die Arbeit von Ämtern, Kinderheimen, Notunterkünften, Streetworkern etc. nicht koordiniert, es fehlt die Vernetzung. Der Fehler dafür liegt im System. Dabei ist bei den Straßenkindern oft Eile geboten: Denn je länger ein Jugendlicher auf der Straße lebt, desto schwieriger ist es, ihn wieder zu integrieren – und damit kostet er die Gesellschaft am Ende viel Geld.
Quellen: ZDF/t-online.de vom 17.12.2014
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