Schallkanonen: „Die Luft wird zur Waffe“

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Holger Schulze erforscht die Macht von Klängen. Schallkanonen, wie im Irakkrieg oder bei den Anti-G20-Demonstrationen 2009, sind für ihn die Wasserwerfer der Zukunft.

(Bild: Japans Himmelshörapparat „kyūjū-shiki dai kūchū chōonki“, auch Kriegstuba genannt)

Herr Schulze, jeden Tag sehen wir Bilder von kriegerischen Auseinandersetzungen. Wenn von Waffen die Rede ist, geht es heute meist um Drohnen. Aber Sie beschäftigen sich als Wissenschaftler mit einem ganz anderen, noch recht neuen Kampfgerät: Schallwaffen. Das klingt nach Science-Fiction. Bitte erklären Sie, womit wir es da zu tun haben.

Holger Schulze: Ja, Schallwaffen sind längst in Gebrauch. Sie wurden schon im Irakkrieg eingesetzt und bei den Anti-G20-Demonstrationen 2009. Ursprünglich wurden sie gegen Seepiraten entwickelt. Sie fallen ins Feld der non-lethal weapons, der nicht tödlichen Waffen, so wie Tränengas oder Wasserwerfer. Sie setzen den Feind oder Störenfried zwar über größere Distanzen außer Gefecht, aber er stirbt eben nicht. Man spricht auch von sonic warfare.

Man kann es sich nur sehr schwer vorstellen.

Sogenannte Soundkanonen erzeugen einen hohen Schalldruck, der punktuell und gezielt, in der Fachsprache heißt es „gerichtet“, abgegeben wird. Man kann es mit einem Laserstrahl vergleichen.

Und was bewirkt der Schalldruck?

Stellen Sie sich vor, dass völlig überraschend eine Welle von 150 oder 180 Dezibel auf Sie eindröhnt. Das ist, als würde man direkt neben einem Düsentriebwerk stehen, extrem laut. Und wirklich schmerzhaft. Es führt zu einer unmittelbaren Angstreaktion, einem Adrenalinschock. Und dazu, dass man sich die Ohren zuhält. Die Entwickler bezeichnen das etwas sardonisch als „akustische Handschellen“. Jemand, der sich die Ohren zuhält, kann ja selbst keine Waffen halten, kein Megafon bedienen. Zuletzt wurde das bei den antirassistischen Demonstrationen in Ferguson wieder erprobt.

Auch die kanadische Polizei setzt die Methode inzwischen ein. Im US-Bundesstaat Pennsylvania klagt eine Demoteilnehmerin jetzt wegen bleibender Schäden.

Wenn man ganz gezielt sehr tiefe Wellen, etwa sehr starke, ruppige Bassklänge, direkt auf Ihren Torso richtet, resonieren Ihre Organe, sie schwingen mit, werden erschüttert. Oder wie man bei Bassklängen aus dem Subwoofer sagt: Das geht Ihnen in den Bauch. Schwallwellen sind nichts anderes als Molekülanregungen, Dinge werden physisch weiterbewegt. Das ist dann doch etwas ganz Materielles – ein ziemlich brachialer Schlag aus der Ferne. Long Range Acoustic Device, LRAD, lautet der Überbegriff für die entsprechenden Geräte. Ausgesendet werden die Wellen von einer Art Parabolantenne. Man kann sagen: Die Luft, die zwischen dem Gerät und Ihnen liegt, wird da als Medium der Gewalt genutzt.

Das klingt wirklich unheimlich.

Das Perfide ist: Diese Waffen hinterlassen keine Spuren, ihr Einsatz ist kaum nach-zuweisen. Unsere anatomische Bedingtheit wird dabei gegen uns verwendet. Der Körper geht in Alarmbereitschaft. Wir verfallen instinktiv in Panik, bekommen Kopfschmerzen, uns wird sehr schlecht. Es kann zu inneren Blutungen kommen, Organe wie die Milz können ernsthaft beschädigt werden. Das Gehör natürlich auch. Diese Folgen sind aber noch wenig erforscht.

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Der wichtigste Hersteller dieser Waffen scheint die American Technology Corporation zu sein. Von dort heißt es, dass Schallwellen gegen Schädlinge in der Landwirtschaft sehr gut wirken. Das ist besser als Pestizide, oder?

Genau das ist ein Problem: dass die wichtigste Waffenfirma ein penetrantes Greenwashing betreibt, indem sie den zivilen Nutzen dieser Technologie zu betonen versucht. Eines der für die Landwirtschaft vorgesehenen Geräte heißt Mosquito, weil es sehr hohe Frequenzen aussendet. Es soll etwa gegen Nagetiere wirken. Wenn man das auf ein ganzes Feld an-wendet, strahlt der Schall aber nicht linear, sondern sphärisch, in die Breite, auch in die umliegenden Häuser. Da wir als Menschen die hohen Frequenzen nicht hören können, sollen sie uns nichts tun.

Tun sie aber doch?

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Nun, Steve Goodman, britischer Klangforscher und Gründer des Musiklabels Hyperdub, berichtet in seinem Buch Sonic Warfare. Sound, Affect, and the Ecology of Fear (MIT Press 2009) von amerikanischen Eigenheimbesitzern in ländlichen Gebieten, die plötzlich über starke Migräne klagten. Abgesehen davon weckt allein schon der Ungezieferbegriff üble Assoziationen. Mit Schallwaffen kann man missliebige Personen, Obdachlose oder laute Jugendliche, von öffentlichen Orten vertreiben.

Legendär ist die klassische Musik, die rund um die Uhr am Hamburger Hauptbahnhof erschallt – um die Junkies zu nerven und fernzuhalten.

Da wird mit einem Zermürbungseffekt gearbeitet, klar.

Francis Ford Coppola hat solchen Psychoterror in seinem Vietnamkriegsfilm „Apocalypse Now“ von 1979 thematisiert. US-Hubschrauber donnern über feindliche Dörfer, aus den Boxen dröhnen Wagner-Klänge. Nun las ich, dass in Vietnam tatsächlich solche Flugsoundangriffe gestartet wurden. Die entsprechenden Hubschrauber wurden „People Repeller“ genannt, Leute-Abschrecker, richtig?

Ja. Es gab auch schon im Zweiten Weltkrieg Versuche der Amerikaner, die Nazitruppen mit Klängen zu verwirren. Das nannte sich Ghost War: Man ließ Schlachtenlärm erklingen, simulierte Granateneinschläge, um dem Feind die Orientierung zu nehmen. Oder: Musik als Folterinstrument. Sehr erfolgreich in dieser Disziplin sind die Guantánamo-DJs.

Guantánamo-DJs?

Für die Gefangenenlager wurden regelrechte Folter-Playlists zusammengestellt. Da wird den Inhaftierten etwa die Sesamstraße-Musik vorgespielt, stundenlang jeden Tag. Das ist eine Melodie, die weltweit bekannt ist, sie steht für eine gewisse Weltsicht, auch für die kulturelle Übermacht der USA. So in etwa müssen sich die Guantánamo-DJs das gedacht haben: „Jeder Taliban gibt klein bei, wenn er das dauernd hören muss.“ Das funktioniert dann eher auf der symbolischen Ebene, mit Ästhetik und Inhalten, einem kulturellen Rahmen. Auf den Folter Playlists stand auch Born in the USA von Bruce Springsteen, obwohl gerade dieses Stück ja ein sehr US-kritischer Protestsong ist. Diese Gebrochenheit vermittelt sich beim oberflächlichen Hören aber nicht. Da ist der Sound dann wieder stärker, so viel Pathos!

Pop als Waffe, aha.

Ein schönes Beispiel dafür ist auch die Festnahme von Manuel Noriega, dem selbst ernannten früheren Machthaber in Panama: Er galt international als Schwerverbrecher. Nach der US-Invasion in Panamá verschanzte er sich 1990 in der vatikanischen Botschaft von Panama-Stadt. Statt das Gebäude zu stürmen, beschallten die US Marines es mit Pop und Heavy Metal.

Was eigentlich witzig ist: Man spielte Noriega auch einen Motown-Klassiker vor, ein Stück von Martha Reeves mit dem sinnfälligen Refrain: „Nowhere to run to, baby, nowhere to hide.“

Genau elf Tage lang hielt Noriega das aus. Dann stellte er sich.

Schon in der Bibel kommt ja ein Soundkrieg vor: Jericho, die Stadtmauern, die Trompeten.

Ja, die Überwältigung durch Klänge ist in der Kulturgeschichte immer wieder ein Thema. Der Geräuschpegel, mit dem wir heute leben, würde Menschen aus früheren Jahr-hunderten vermutlich in die Knie zwingen. Etwa hier in Berlin, ein Verkehr wie an dieser Straße: Das ist Jericho. (Anm. d. Red.: Das Gespräch fand in einer Bar an der Berliner Karl-Marx-Allee statt.)

Ein Mittelaltermensch wäre vom Sound des Heute überfordert?

Die sensorischen Fähigkeiten der Menschen verändern sich stark über die Zeit, durch Alltagsschulung. Wir erreichen da heute tatsächlich Fähigkeiten der Wahrnehmung, die es früher so nicht gab. Dafür verlieren wir andere.

Noch mal zu den neuen Schallwaffen: Wie könnte man sich dagegen überhaupt wehren?

Es wird vermehrt Schutzwesten gegen Schallwellen geben, oder Reflektoren, die den Sound zurückwerfen. Bislang findet man gerichtete Soundkanonen noch nicht auf dem freien Markt, aber man findet ausgemusterte Militärgeräte im Darknet, im dunklen Keller des Internets. Eines Tages wird es solche Geräte mit kleinerer Reichweite auch im Geek-Shop ihres Vertrauens, also quasi nebenan geben. So wie es jetzt schon Minidrohnen für den Privatgebrauch gibt. Was ich ernsthaft denke: Erst wenn es in den Vereinigten Staaten den ersten Terrorangriff gegeben hat, der mit Drohnen ausgeführt wurde, wird die Debatte um das Verbot dieser Technologie anziehen. Mit den Soundkanonen wird es dann ähnlich laufen.

Holger Schulze leitet als Professor für Musikwissenschaft das Sound Studies Lab an der Uni Kopenhagen. Am Berliner Haus der Kulturen der Welt kuratierte er zwischen 2012 und 2014 mehrere Klangthemenwochenenden, etwa zu „Böser“ und „Doofer Musik“.

Quellen: Wikipedia/freitag.de vom 18.11.2014

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