Diplomaten ließen die Führung des Folterlagers Colonia Dignidad in Chile 40 Jahre gewähren. Ihre Passivität könnte der Bundesrepublik bald Probleme schaffen.
Über 40 Jahre bot die Colonia Dignidad im Süden Chiles ein Musterbild deutscher Tüchtigkeit und Ordnung. Hinter der sorgsam gepflegten Kulisse vergewaltigte Paul Schäfer, der Gründer und Führer der Auswanderergemeinde, unzählige Jungen und unterwarf seine Anhänger einem Regime gnadenloser Arbeitsfron, brutaler Strafen und rabiater sexueller Unterdrückung.
(Am Zaun der Colonia Dignidad hängen die Bilder von verschwundenen Menschen)
Während der Militärdiktatur von General Pinochet stellte er das hermetisch abgeschottete Siedlungsgelände dem chilenischen Geheimdienst für Folter und Mord an politischen Gefangenen zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland tat angesichts der schweren Verbrechen, die von und an deutschen Staatsangehörigen in Chile verübt wurden, jahrzehntelang: nichts.
Im Jahr 1961 verließen etwa 230 Mitglieder einer evangelikalen Gemeinde Deutschland und gründeten mit ihrem Führer Paul Schäfer, der einer drohenden Verhaftung wegen Kindesmissbrauch entkommen wollte, im armen Süden Chiles nahe der kleinen Stadt Parral die Colonia Dignidad. In den ersten Jahren nahmen die Siedler nur selten Kontakt zur deutschen Auslandsvertretung auf.(1) Umso enger wurden die Beziehungen während der Pinochet-Diktatur ab 1973.
Die Kolonie, die sich zu einem höchst erfolgreichen Landwirtschaftsunternehmen ent-wickelt hatte, durfte nun auf dem Parkplatz der Botschaft Würste, Schinken und Kuchen verkaufen oder gefällig verpackt als Geschenke überbringen. Pässe wurden stoßweise aufgrund von Vollmachten verlängert, Lebensbescheinigungen zur Auszahlung von Renten ohne weitere Prüfung pauschal erteilt.(2) Erich Strätling, von 1976 bis 1979 bundesdeutscher Botschafter in Chile, ließ sein Auto von Siedlern lackieren und seine Residenz neu anstreichen.(3) Im November 1976 besuchte er erstmals die Colonia Dignidad. Anlass war ein UN-Bericht, in dem sie als Folterzentrum bezeichnet wurde.
Lotti Packmor, die 1985 aus der Kolonie floh, berichtete:
Ich kann mich an den Besuch des Herrn Botschafters Strätling erinnern. Er hat einen herrlichen Empfang gehabt. (…) Er sagte: Er sei angenehm überrascht, auf dem Wege zur Colonia von Parral den Landweg zu fahren, und es sei ihm wie im Märchen bei Schneewittchen ergangen: Hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen sei es viel schöner usw. Eine Musikkapelle, ein Blasorchester, hat ihn in einem feierlich geschmückten Saal empfangen. Die deutsche Nationalhymne wurde gespielt. Chöre sangen. Es war eben ein ganz offizieller Staatsempfang. Wir haben – Orchester usw. – wochenlang für diesen Besuch geübt.(4)
Ein Jahr später, Amnesty International hatte in Deutschland öffentlich Folteranklagen erhoben, kam Strätling zum zweiten Mal in die Colonia und ließ sich von Paul Schäfer, der sich ihm gegenüber „Dr. Schneider“ nannte(5), durch die Siedlung führen. Er machte das leicht durchschaubare Spiel des Koloniegründers, der offiziell für tot gehalten werden wollte, kommentarlos mit und gab vor der Presse eine Ehrenerklärung für die Gemeinde ab.
Dem Auswärtigen Amt teilte er mit: „Ich habe keine unterirdischen Folteranlagen gefunden.“(6) Die Vorwürfe gegen die „Colonia“ seien „Gerüchte und unbewiesene Behauptungen“.(7) Strätling sah in der Kolonie einen Hort konservativer Werte – Frömmigkeit, Sauberkeit und Ordnung, Fleiß, Tüchtigkeit und Nächstenliebe, Traditions-bewusstsein und Pflege deutscher Kultur – und teilte ihren strikten Antikommunismus.
Das genügte ihm, um die Foltervorwürfe für falsch zu halten, kamen sie doch allesamt von linken Exilchilenen und ließen sich als ideologische Kampagne abtun. Gute, fleißige Deutsche, die sich gegen verleumderische Gerüchte wehren mussten – das war bis 1985 die wohlgefällige Sicht der Deutschen Botschaft auf die Schäfer-Gemeinde.
Sie hätte es besser wissen können. Der Haftbefehl gegen Schäfer war seit 1961 akten-kundig. Ernst-Wolfgang Müller, der erste aus der Siedlung, der sich in die Botschaft flüchtete, berichtete dort schon 1966 von deutschen Staatsbürgern, die in einer deutschen Kolonie festgehalten, ausgebeutet, gequält und vergewaltigt wurden. Sowohl die Zu-sammenarbeit zwischen der Colonia Dignidad und dem Geheimdienst DINA als auch ihre Verbindungen zur rechtsradikalen Organisation „Patria y Libertad“, die während der Regierungszeit des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende Terroranschläge verübte, waren bekannt.(8)
Der BND reichte im Dezember 1987 eine „Ausarbeitung“ im Auswärtigen Amt ein, in der auch „Verstöße gegen strafrechtliche Tatbestände“ aufgeführt wurden.(9) Bis 1985 aber ging die Botschaft keinem der Hinweise auf Verbrechen in der deutschen Siedlung nach, die sie erreichten. Botschaftsmitarbeiter verhalfen einzelnen Flüchtlingen zur Ausreise nach Deutschland, zu Nachforschungen über die grausamen Geschichten, die sie er-zählten, sahen sie sich weder in der Lage noch glaubten sie dazu ein Recht zu haben. In anderen Fällen wiederum übergaben sie Menschen, die Schäfer entkommen waren, den Jägern aus der Kolonie. Hilfsgesuche von Angehörigen, die ihre in der „Colonia“ lebenden Eltern, Kinder oder Geschwister suchten, wurden in der Regel ignoriert oder mit dem Hinweis abgelehnt, die betreffende Person halte sich dort freiwillig auf.(10)
Erst Mitte der 1980er Jahre verlor Schäfer das besondere Wohlwollen der Diplomaten. Im Dezember 1984 floh Hugo Baar, der in Deutschland Schäfers Stellvertreter gewesen war, aus der Siedlung, im Februar 1985 das Ehepaar Packmor. In der Botschaft, vor der deutschen Presse und drei Jahre später auch in einer Anhörung des Bundestages be-stätigten sie die Anklagen von Amnesty International wegen Folterungen, Waffenhandel, Freiheitsberaubung, Zwangsarbeit und sexuellem Missbrauch in der Kolonie. Der Verkauf von Waren aus der „Colonia“ auf dem Botschaftsgelände wurde eingestellt.(11)
Konsul Dieter Haller beendete die Praxis der pauschalen Passverlängerungen und der unbesehenen Ausstellung von Lebensbescheinigungen und zog sich damit eine – letztlich abgewiesene – Dienstaufsichtsbeschwerde der Colonia Dignidad zu.(12) Der damalige Botschafter Kullak-Ublick besuchte im November 1987 die Siedlung. Was er an das Aus-wärtige Amt meldete, widersprach der Einschätzung von Erich Strätling fundamental. In seinem Bericht „aus einem Geisterhaus“ beschrieb er eine „Gesellschaft von roboterhaften Funktionssklaven“, „Arbeit als Lebensinhalt, Geschlechtslosigkeit als System, 300 betrogene deutsche Staatsangehörige als Arbeitsinstrumente in einem Arbeitslager gehalten“.(13)
Auf Anweisung von Außenminister Genscher unternahm er im Dezember einen riskanten Versuch, sich einen ungeschminkten Einblick in Schäfers Enklave zu verschaffen.
Zusammen mit Emil Stehle, dem Weihbischof von Quito, und Rodolfo Stange, dem General der chilenischen Militärpolizei, wollte er per Hubschrauber in die abgeschottete Kolonie gelangen. Auf dem Hubschrauberlandeplatz war ein Lastwagen abgestellt, auf dessen Ladeflächen Gipskartonplatten lose aneinander gelehnt waren, die durch den Sog der Rotoren nach oben gezogen worden wären und den Hubschrauber zum Absturz gebracht hätten.
Er ging im weiten Gelände nieder. Hartmut Hopp und Kurt Schnellenkamp, herau-sragende Mitglieder der Führungsriege um Schäfer, eilten herbei und erklärten dem deutschen Botschafter, er sei unerwünscht und begehe soeben Hausfriedensbruch.(14) Die Delegation zog sich unverrichteter Dinge zurück. Botschaft und Auswärtiges Amt nahmen die anmaßende Zurückweisung hin, das chilenische Außenministerium ließ nur mitteilen, dass die „CD (…) jedes Gespräch“ verweigere und keinerlei Unterstützung gewähre.(15)
Mit der Beteiligung Stanges, der der regierenden Junta angehörte, wahrte die Bunde-sregierung auch bei diesem Unternehmen so eben noch den Grundsatz der Nicht-einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates nach Art. 2 der UN-Charta. Nichteinmischung war stets die oberste Maxime der Regierung, die bis 1987 „auffallend passiv“ auf alle Berichte über menschenunwürdige Zustände in der Colonia Dignidad reagierte.(16)
Die Motive und Hintergründe der nach außen hin überaus zurückhaltenden Politik gegenüber einer dubiosen deutschen Gemeinde und der Militärdiktatur des Landes, in dem sie sich verschanzt hatte, sind einer Analyse, die über Vermutungen und öffentlich verfügbare Indizien hinaus geht, nicht zugänglich. Bis heute weigert sich die Bundes-regierung, Wissenschaftlern oder Journalisten Zugang zu den Akten über die Colonia Dignidad zu gewähren. Im Jahr 2011 begründete sie dies mit der Sorge, dass „eine Freigabe sensibler Akten (…) einen Anlass für Konflikte und Vorwürfe zum Umgang mit der Militärdiktatur schaffen (könnte), in welche die Bundesrepublik Deutschland hineingezogen werden könnte“.(17)
Sie will nicht „hineingezogen werden“ in die Versuche des demokratischen Chile, die Folgen des Militärregimes aufzuarbeiten, so wie sie sich früher offiziell aus den inneren Angelegenheiten eben dieser Diktatur heraushielt, die konservative Politiker wie Franz-Josef Strauß offen unterstützten.
Intervention von Hans-Dietrich Genscher
Im Jahr 1987 endete für eine kurze Phase diplomatischen Drängens die jahrzehntelange politische Untätigkeit. Es war wohl der damalige Außenminister Genscher persönlich, der „zum Handeln entschlossen“ war, nachdem sich Arbeitsminister Norbert Blüm nach einem Chile-Aufenthalt im Sommer dieses Jahres an ihn gewandt hatte.(18) Das Außen-ministerium entfaltete über die spektakuläre Hubschrauberlandung hinaus zwischen Oktober 1987 und September 1989 eine Serie von Maßnahmen, wie es sie weder vor noch nach dieser Zeit gegeben hatte.
Genscher richtete acht Schreiben an seinen chilenischen Amtskollegen Garcia, führte persönliche Gespräche mit ihm und dem chilenischen Finanzminister zur „CD“, erließ fünf Weisungen an die deutsche Botschaft und bestellte fünfmal den chilenischen Botschafters in das Außenministerium in Bonn, das schärfste diplomatische Mittel, um sein Missfallen über die chilenische Regierung zu äußern. Es ging ihm dabei zunächst um „rasche und umfassende Aufklärung“ dessen, was in der abgeschlossenen Siedlung geschah, darüber hinaus aber auch „um Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen“ gegen die Kolonie und schließlich um den Einsatz für Flüchtlinge.(19)
Das Schicksal von Jürgen Szurgelies bewog Genscher zu einer persönlichen Intervention. Szurgelies floh 1988 aus der Kolonie und wandte sich hilfesuchend an die Botschaft, wurde von seinen Eltern aber für geistesgestört erklärt und zurück in die Siedlung ge-bracht, wo er als ruhig gestellter Dauerpatient im Krankenhaus der Kolonie dahinlebte.(20) Die Botschaft nahm diesen Fall zum Anlass, um in einer Presserklärung auf ihre „gesetzliche Verpflichtung zum Schutze deutscher Staatsbürger“ hinzuweisen, was im Einzelfall auch „Hilfe und Schutz“ einschließe und sie „bei Verdacht auf Straftaten“ zur Aufklärung verpflichte.(21)
Sie stellte einen Schutzantrag bei der chilenischen Justiz, um mit Jürgen Szurgelies auch gegen den Willen der Eltern sprechen zu können. Er wurde abgelehnt. Nachdem Genscher seinem Amtskollegen Garcia in einem Gespräch am Rande einer UN-Vollversammlung erklärte, das Verhalten der chilenischen Regierung sei „eine schwere Belastung der deutsch-chilenischen Beziehungen“(22), nahm die Justiz Ermittlungen im Fall Szurgelies auf, die das Oberste Gericht im August 1989 aber einstellte, einem Antrag der Siedlungs-anwälte folgend. Die chilenische Justiz und die Militärregierung hielten unverbrüchlich ihre schützenden Hände über Schäfer und verhinderten, dass deutsche Beamte die Zustände in einer Kolonie deutscher Staatsbürger untersuchten.
Im Jahr 1990 geriet die Siedlung in Chile wieder an den Rand des politischen Interesses der Bundesregierung, nicht nur, weil die Wiedervereinigung alle Kraft beanspruchte, sondern auch, weil nach dem Ende der Pinochet-Diktatur die neue, demokratisch gewählte Regierung unter Präsident Aylwin entschlossen gegen die Colonia Dignidad vorging. Die Botschaft begnügte sich nun damit, die Arbeit chilenischer Untersuchungs-richter zu unterstützen(23) und die juristischen Attacken der Siedlungsanwälte gegen deutsche Beamte abzuwehren und folgte ansonsten wieder dem Prinzip der Nicht-einmischung, dem sie stets gehuldigt hatte.
Im Jahr 2005 wurde Schäfer, der sich Ende 1997 nach Argentinien abgesetzt hatte, dort in seinem Unterschlupf verhaftet. Nun war die Bundesregierung daran interessiert, dass die führerlos gewordenen Bewohner der Siedlung wenn irgend möglich weiter in Chile lebten; sie hätten, hieß es, dort „ihre Heimat“ gefunden und setzten selbst „große Hoffnungen“ darauf, bleiben zu können.(24) Die Menschen sollten möglichst nicht, wozu sie als deutsche Staatsbürger ja das Recht hatten, in das ihnen völlig fremd gewordene Deutschland zurückkehren und dort gegebenenfalls zu Hunderten soziale Unterstützung in Anspruch nehmen.
Die Regierung verfolgte dazu einen „dreiteiligen Ansatz: Strafverfolgung, Therapie, Integration in die chilenische Gesellschaft“.(25) Damit die Schäfer-Gemeinde ohne Schäfer in Chile weiterexistieren konnte, finanzierte das Außenministerium vor allem eine psychologische Therapie der über Jahrzehnte hinweg misshandelten Kolonisten und Berater für ihre Wirtschaftsunternehmen, die Bankrott zu gehen drohten. Die Belastung für den deutschen Staatshaushalt sollte dabei mit cirka 250.000 Euro pro Jahr möglichst niedrig gehalten werden. Ende 2013 liefen die Unterstützungsmaßnahmen aus.(26) Die Verfolgung von Straftätern überließ man weitgehend der chilenischen Justiz. Zwar laufen in Deutschland Ermittlungsverfahren gegen Führungsmitglieder der Schäfer-Gemeinde, sie führten aber bisher in keinem Fall zu einem Prozess.
Bevorstehende Klage
Eine intensivere politische Beschäftigung mit dem Komplex Colonia Dignidad fand in Deutschland niemals statt, das Thema hatte keine Priorität, es erschien eher als „lästiges Übel“.(27) Die Regierung betonte wiederholt, dass eine „Mitverantwortung der Bundesrepublik Deutschland für die in der Colonia Dignidad begangenen Straftaten nicht (besteht).“(28) Gewiss hielt sich die Bundesregierung stets an die Regeln des Völkerrechts und respektierte die Souveränität Chiles. Sich nicht einzumischen bedeutete in den Jahren der Militärdiktatur aber ein faktisches Eintreten für Schäfer, zu dem sich manche Diplomaten auch offen bekannten.
Dies trug mit dazu bei, dass eine Gruppe von deutschen Staatsbürgern, die sich schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig machten, ihren Geschäften und Verbrechen in Chile unbehelligt nachgehen konnte. In den Zeiten der Demokratie sorgte das Prinzip der Nichteinmischung dafür, dass die Straftaten von Deutschen in Chile nicht zu einem deutschen Problem wurden, sondern ein Problem Chiles blieben. Die entschiedenen Aktivitäten unter Außenminister Genscher während dreier Jahre deuten an, was rechtlich und diplomatisch möglich gewesen wäre, hätte die Bundesregierung die Aufklärung der Verbrechen von und an deutschen Staatsbürgern in der Colonia Dignidad zu ihrer Sache gemacht. Sie tat es nicht, aus welchen Gründen auch immer.
Ihre jahrzehntelange Passivität könnte der Bundesrepublik bald Probleme schaffen. Der Rechtsanwalt Winfried Hempel bereitet derzeit Prozesse vor, in denen er Deutschland und Chile auf insgesamt 120 Millionen US-Dollar Schadensersatz verklagen will. Er will jeweils eine Million für jeden der 120 Klienten einfordern, die er sowohl unter Menschen ge-wonnen hat, die noch in der Kolonie leben, wie unter denen, die sie verlassen haben. Er glaubt, in jahrelanger mühseliger Kleinarbeit nicht nur Hinweise, sondern gerichtsfeste Beweise dafür gefunden zu haben, dass zuständige Behörden beider Staaten von den Zuständen in der Kolonie wussten, dass sie nichts unternahmen, obwohl sie zum Schutz ihrer jeweiligen Staatsbürger verpflichtet gewesen wären und durch diese „unterlassene Hilfeleistung“ die psychischen und physischen Schäden mit verursachten, die die Insassen der Colonia Dignidad erlitten.
Einer seiner Mandanten ist Heinrich Wagner, der sich 1967 in das Botschaftsgebäude in Santiago flüchtete. Dort widerfuhr ihm dies:
Er wurde freundlich empfangen: „Komm rein, da warten schon welche auf dich“ und in einen Raum geführt, in dem Schnellenkamp und Schreiber saßen, die ihn dann drei, vier Stunden beharkten, in Gegenwart einer Botschaftsangehörigen, an deren Namen er sich nicht mehr sicher erinnert. Schnellenkamp gab ihr sein Ehrenwort, dass er Wagner sicher zum Flughafen bringen würde. Tatsächlich fuhr er mit ihm in das Haus der Kolonie in Santiago, wo schon eine Spritze und ein Ambulanzwagen auf ihn warteten, der ihn in die Colonia Dignidad zurückbrachte. Dort war er 40 Jahre im Krankenhaus, die Beruhigungsmittel, die man ihm verabreichte, machten ihn zum Zombie.
Als lebenden Toten lernte Rechtsanwalt Winfried Hempel Heinrich Wagner in der Kolonie kennen.
Er ist sich sicher, die juristischen Schwierigkeiten einer solchen Klage überwinden zu können, etwa die: Welche Institution hat welche Amtspflicht verletzt und kann deswegen gerichtlich belangt werden? Ist eine Sammelklage zulässig? Lässt sich eine Ursachen-beziehung zwischen staatlichem Nichthandeln und erlittenen Schäden jeweils schlüssig nachweisen? Und wenn ja: Ist eine mögliche Amtshaftung nicht inzwischen verjährt? Welchen Entschädigungsanspruch haben Erwachsene, die Schäfer freiwillig folgten und ihm viele Jahre die Treue hielten?
Hempel arbeitet auf Erfolgsbasis und finanziert seine Ausgaben über Kredite vor. Ob eine Klage gegen den chilenischen Staat Erfolg haben wird, scheint ihm ungewiss, Chile hat die Colonia Dignidad schließlich über Jahrzehnte zunächst offen unterstützt und heimlich benützt und ab 1990 bekämpft. Er glaubt aber fest daran, der deutschen Regierung unterlassene Hilfeleistung für deutsche Staatsbürger nachweisen zu können. Sollten ihm deutsche Gerichte nicht Recht geben, dann werde er spätestens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte siegen.(29)
…
Der Text ist ein stark gekürzter Auszug aus dem jüngst im A1-Verlag München erschienenen Buch „Das Blendwerk“, in dem Horst Rückert, ehemaliger Leiter der Deutschen Schule in Concepción, die Geschichte der Colonia Dignidad bis in die Gegenwart nachzeichnet.
Horst Rückert: Das Blendwerk. Von der Colonia Dignidad zur „Villa Baviera“, 256 Seiten, Softcover, mit zahlreichen Fotos, € 17,80 [D]/€ 18,30 [A], ISBN 978-3-940666-56-7
Verweise:
1. Chronologie der „Aktivitäten der Bundesregierung bezüglich der Colonia Dignidad/Villa Baviera“, Deutscher Bundestag Drucksache 17/7280 Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Jan Korte u.a. vom 4.10.2011, www.dip.21/bundestag.de, aufgerufen am 9.7.2013, S. 24-30.
2. Gero Gemballa: Colonia Dignidad. Ein deutsches Lager in Chile, Reinbek 1988, S. 166.
3. Ebenda, S. 164.
4. Protokoll der 10. Sitzung des Unterausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes vom 22.2.1988, www.agpf.de/Colonia-Bundestagsprotokoll.htm, S. 158.
5. Friedrich Paul Heller: Colonia Dignidad. Von der Psychosekte zum Folterlager, Stuttgart 1993, S. 188 und S.206.
6. Ders.: Lederhosen, Dutt und Giftgas, Stuttgart 2006, S. 94.
7. Dieter Mayer: „Äußerste Zurückhaltung“ – die Colonia Dignidad und die deutsche Diplomatie 1961 – 1978, d-nb.info/991185137/34, aufgerufen am 27.9.2012, S. 5.
8. Vgl. eine entsprechende Aufzeichnung vom 5.4.1977, abgedruckt bei Heller 1993, S. 277-279.
9. Deutscher Bundestag Drucksache 17/12980 vom 11.4.2013, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele u.a., www.dip.21/bundestag.de, aufgerufen am 14.7.2013.
10. „Wir hätten es nicht für möglich gehalten“, taz vom 23.2.1988, www.taz.de.
11. Lorena Mazuré Loos: Perspektiven der deutsch-chilenischen Minderheit in Chile auf Colonia Dignidad, Magisterarbeit an der Universität Wien, 2009, S. 94.
12. „Metropolis und Theresienstadt“, Der Spiegel 49/1987 vom 30.11.1987, www.spiegel.de.
13. „Colonia Dignidad: Aus einem Geisterhaus“, Der Spiegel 48/1991 vom 25.11.1991, www.spiegel.de.
14. Gemballa 1988, S. 172; „Hubschrauberfalle“, Der Spiegel 3/1988 vom 18.1.1988, www.spiegel.de.
15. Deutscher Bundestag Drucksache 17/7280, S. 25.
16. „Aus einem Geisterhaus“
17. Bundestagsdrucksache 17/7280, S. 12.
18. „Blow up“, Der Spiegel 50/197 vom 7.12.1987, www.spiegel.de.
19. Bundestagsdrucksache 17/7280, S. 25f.
20. Álvaro Rojas: Los secretos de la Colonia Dignidad, Santiago o.J. (Centro de documentación del Museo de la Memoria y los Derechos Humanos), S. 55; Heller 1993, S. 163.
21. Zum Fall „Colonia Dignidad“, Presseerklärung der Deutschen Botschaft, Cóndor (Deutsch-chilenische Wochenschrift) vom 5.3.1988.
22. „Genscher kritisiert Chile“, taz vom 28.9.1988, www.taz.de.
23. „Colonia Sekte: Bonn verlässt sich auf Chile“, taz vom 5.8.1997, www.taz.de.
24. So der Gesandte der Botschaft, Klaus Bönnemann in: Das Erbe der Colonia Dignidad: „Wie aus einer anderen Welt“, Cóndor vom 28.10.2005.
25. Bundestagsdrucksache 17/7280, S. 29.
26. Bundestagsdrucksache 17/12980, S. 3.
27. „Die würdelose Kolonie“ Lateinamerika Nachrichten 351/352, September/Oktober 2003.
28. Bundestagsdrucksache 17/7280, S. 29; Bundestagsdrucksache 17/12980, S. 3.
29. Alle Angaben nach einem Gespräch mit Winfried Hempel am 14.10.2013.
Quelle: amerika21.de vom 03.10.2014
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