Sie haben alles, was man sich wünschen kann, trotzdem gehören sie zu den Ärmsten unserer Gesellschaft: Kinder, die unter Wohlstandsverwahrlosung leiden. Denen es materiell zwar an nichts fehlt, die auch das Wort Frühförderung schon mit drei Jahren buchstabieren können und die es für völlig normal halten, dass ihnen Erwachsene unangenehme Aufgaben abnehmen und Cluburlaube finanzieren. Die aber mit ihren emotionalen Wünschen und Bedürfnissen von ihren Eltern komplett allein gelassen werden. Eine psychische Verwahrlosung, die oft erst auf den zweiten Blick zu erkennen ist.
Materiell über- und emotional unterversorgt
Das Zuhause ein schmuckes Häuschen in einer guten Gegend, das Fahrrad vom Feinsten, mehrmals Urlaub im Jahr, Putzfrau, Nachhilfelehrer und selbstverständlich ein Smartphone – wer käme hier schon auf die Idee, es könnte sich um ein verwahrlostes Kind handeln? Stellt man sich unter dem Begriff doch die Bilder vor, die kleine, ver-dreckte Kinder in Bergen von Müll zeigen. Doch in Wahrheit können auch Kinder aus wohlhabenden Verhältnissen sehr arm sein – innerlich arm. Es fehlt ihnen an Zuwendung durch die Eltern, an Momenten, in denen ihnen einfach nur zugehört wird, an Interesse an ihrem Leben, Fühlen und Denken und vor allem fehlt es ihnen an Zuneigung. Sie leiden unter „Wohlstandsverwahrlosung“, ein Begriff, der in den 90er Jahren von der Schweizer Psychologin Ulrike Zöllner (Buch: „Die armen Kinder der Reichen“) populär gemacht wurde. Ein Phänomen, von dem Fachleute überzeugt sind, dass es immer häufiger in der gesellschaftlichen Mitte zu finden ist.
Zur Wohlstandsverwahrlosung braucht es nicht nur Wohlstand
Selbstverständlich hat nicht jede Familie mit hoher Arbeitszeitbelastung und hohem Ein-kommen automatisch ein wohlstandsverwahrlostes Kind zu Hause. Denn nicht jeder, der wenig Zeit für sein Kind hat, lässt dieses emotional verkümmern. Wichtig ist die Qualität der Beziehung und wie die gemeinsame Zeit erlebt wird. „Auch Eltern, die viele Stunden am Tag mit ihren Kindern gemeinsam verbringen, können trotzdem ihre Kinder emotional ‚verhungern‘ lassen“, gibt der Psychotherapeut Klaus Nitsch zu bedenken.
„Während andere Eltern in der Lage sein können, die wenigen gemeinsamen Minuten mit echter emotionaler Substanz zu füllen. Auch das Überhäufen der Kinder mit Geschenken und mit Möglichkeiten führt nicht automatisch zu einem Schaden: Denn zur Wohlstands-verwahrlosung braucht es nicht nur Wohlstand, sondern vor allem emotionale Verwahr-losung.“
Luxus ist nicht Liebe
Eltern, die vor lauter Selbstverwirklichung keine Zeit mehr für ihre Kinder haben, ver-suchen das häufig durch materielle Zuwendung auszugleichen. Oft leben Kinder, die unter Wohlstandsverwahrlosung leiden, in einer nach außen hin intakten Familie, in der es innen brodelt oder schlimmer noch, schon das große Schweigen zwischen den Eltern herrscht. Typische Verwöhnfallen ergeben sich aber auch aus anderen Situationen: Eltern, die durch eine Trennung in einen materiellen Wettstreit treten, berufstätige Mütter, die versuchen, ihr schlechtes Gewissen ruhig zu kaufen oder unsichere Eltern, die sich die Liebe ihrer Kinder zu kaufen versuchen, weil sie Angst davor haben, ein „Nein“ könnte Liebesentzug durch das Kind zur Folge haben. Oder solche, die davon überzeugt sind, ein glückliches Kind sei eines, dessen Wünsche sofort und jederzeit erfüllt werden. Eine solche Luxusverwahrlosung und der damit zusammenhängende falsche Begriff von Liebe führen automatisch zu emotionalen Problemen.
Die Kinder werden wegorganisiert
Es gibt Eltern, die glauben, mangelnde Zeit mit Konsum aufwiegen zu können und es gibt andere, die gar keine Lust haben, sich selbst um ihre Kinder zu kümmern und sich auf sozial akzeptierte Weise galant von ihnen befreien. Das nötige Budget ist ja vorhanden. „Delegieren scheint überhaupt eine wesentliche Stärke sich entziehender Eltern zu sein“, schreibt Nitsch in seinem Buch „Der Trend zu emotionaler Unreife“. „Bei Problemen des Kindes oder mit dem Kind werden zügig und konsequent externe professionelle Helfer verpflichtet.“ Wenn es gut läuft, können solche Betreuungsverhältnisse eine Stütze für das Kind sein, eine Schutzwirkung haben. Meist aber sind es, wie Nitsch es ausdrückt, bindungsschwache Zweckgemeinschaften zwischen Kind und Dienstleister.
Von Schuldgefühlen kann man sich nicht freikaufen
Zu den Grundbedürfnissen eines Kindes gehören nicht nur Essen, Trinken, saubere Kleidung und ein Dach über dem Kopf, sondern auch die Befriedigung seiner Schutz-bedürfnisse, Anregung, Verlässlichkeit, Verständnis und körperliche wie seelische Wertschätzung. Kinder brauchen eine sichere Bindung und emotionale Zuwendung. Wohlstandsverwahrlosten Kindern fehlt es aber nicht nur an Aufmerksamkeit für ihre Bedürfnisse, es fehlt ihnen auch an Grenzen. Denn diese zu setzen, Konflikte auszutragen und auszuhalten, das kostet Zeit, und um die nicht opfern zu müssen, wird nachgegeben. Das sorgt ja erst einmal auch für Ruhe. Aber eben nur erst einmal. Denn auf Dauer macht es die Kinder immer orientierungsloser und oft tyrannisch.
Es entsteht ein Kreislauf: Emotional unterernährte Kinder fühlen sich abgewiesen und verlangen, in Ermangelung von Zuneigung nach materiellen Beweisen für die Wert-schätzung und Liebe der Eltern. Erfolgt diese nicht sofort, dann reagieren die Kinder mit Wut, Ängsten, Depressionen und/oder psychosomatischen Beschwerden. Die Eltern fühlen sich hilflos und überfordert, kämpfen mit Schuldgefühlen und fallen ins alte Muster zurück.
Je jünger das Kind, desto weniger eindeutig die Symptome
Bei kleineren Kindern zeigt sich Wohlstandsverwahrlosung in erster Linie bei der Sprachentwicklung. Doch da diese aus vielen Gründen verzögert sein kann, ist das Problem hier noch schwerer zu erkennen als bei älteren Kindern. Was nicht heißt, dass es weniger schlimm wäre. Der Unterschied ist lediglich, dass kleine Kinder das Angebot der Eltern weniger bewusst mitgestalten. „Jugendliche und junge Erwachsene hingegen ge-stalten aktiver die wohlstandsverwahrloste Beziehung mit. Sie haben sich bereits weit-gehend arrangiert, sich im Netz der Ersatzbefriedigungen eingerichtet und gelernt, Unlustgefühle rasch mit Konsum oder berauschenden Mitteln zu betäuben“, so Nitsch. Der dauernd verplante Tagesablauf führt zudem dazu, dass Wohlstandsverwahrloste nichts mehr mit sich anzufangen wissen und einen ausgeprägten Reizhunger entwickeln, der ihre innere Leere füllen soll.
Jungen reagieren dabei stärker als Mädchen. Bei ihnen kommt die Wohlstandsver-wahrlosung weniger lärmend und weniger deutlich destruktiv-aggressiv daher. Auffällig seien bei Mädchen eher die sehr teuren Einkäufe und die Wut, wenn ihnen einmal ein Wunsch abgeschlagen werde. Oft kombiniert mit autoaggressiven Verhaltensweisen.
Hilfeschrei der kindlichen Seelen
Eine weitere Folge der Wohlstandsverwahrlosung liegt in der Persönlichkeitsent-wicklung. Vermindertes Mitgefühl ist typisch, aber auch erhöhte Aggressivität, eine geringe Frustrationstoleranz und eine Unfähigkeit, sich zu binden. Selbst bei Über-gewicht sollte man an die Folgen mangelnder Zuwendung denken. „Häufig entwickeln emotional verwahrloste Kinder begleitende psychische Störungen. Zu diesen gehören Persönlichkeitsstörungen, psychosomatische Erkrankungen, Ängste, Depressionen, AD(H)S“, erklärt Nitsch. Ab dem Jugendalter kommt Missbrauch von Alkohol und Drogen dazu. „Dieser hat anfangs Trost- und Beruhigungsfunktion, ist aber auch als Hilfeschrei der Seele zu verstehen.“
Freundschaften werden nach dem Nutzen beurteilt
Auch wenn es nicht gleich so schlimm kommen muss: Trotz der vielen Nachhilfe bleiben die meisten dieser Schüler weit unter dem, was sie leisten könnten, begründet in mangelndem Durchhaltevermögen, fehlenden Zielen, spärlich entwickelter Selbst-ständigkeit. Das Gefühl, ein Problem selbst gelöst zu haben, kennen sie nicht. Die Kinder und Jugendlichen sind häufig antriebslos, entwickeln daneben aber eine extreme Anspruchshaltung. Dankbarkeit oder gar Demut sind ihnen fremd, ein Gefühl für Geld und was es für manche Menschen bedeutet, dieses zu verdienen, auch. Verantwortung übernehmen sie nur ungern und Freundschaften werden nach dem „Was-nützt-mir-derjenige“-Aspekt beurteilt.
Das Kind als Luxusobjekt
Man braucht sich nur die eine oder andere Promifamilie anzusehen und schon ist der Gedanke nicht mehr ganz so abwegig, dass es Menschen gibt, die ihre Kinder als Indikator ihres eigenen Status inszenieren. Sie rauben ihnen die Kindlichkeit und sorgen dafür, dass ihre Ideen von der Zukunft mit der Realität nur noch wenig zu tun haben, sondern zwischen Riesenwünschen und Riesenangst schwanken.
„Wohlstandsverwahrlosung ist also keine vorübergehende Kinderkrankheit, sondern immer auch eine Hypothek, die weit in die Zukunft ausstrahlen kann“, warnt Nitsch.
Denn eines sollte man bedenken: Die emotional verwahrlosten Kinder von heute sind die emotional verwahrlosten und verwahrlosenden Eltern von morgen.
Quelle: t-online.de vom 04.04.2014
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