Nikita Chruschtschow in der Sowjetunion und Antonín Novotný in der Tschechoslowakei wurden beide 1953 Vorsitzende der kommunistischen Parteien ihres Landes. Fünf beziehungsweise vier Jahre später bekleideten sie auch ein zweites Amt: Chruschtschow wurde zum Regierungschef und Novotný zum Staatspräsidenten gewählt. Zudem gingen ihre politischen Karrieren ähnlich zu Ende: Sie wurden beide sozusagen abserviert. Doch jenseits der Parallelen galt: Die ČSSR war maximal ein unterwürfiger Juniorpartner des sogenannten großen Bruders. Im Folgenden mehr zum Verhältnis der beiden Staaten zueinander zu Zeiten Chruschtschows.
In das Jahr 2014 fallen Chruschtschows 120. und Novotnýs 110. Geburtstag, doch weder in des einen noch in des anderen Heimat werden diese Jubiläen gefeiert. Dabei lässt sich dem Sowjetpolitiker immerhin die historische Abkehr vom Stalinismus zugute halten. Beim 20. Parteitag der KPdSU, der Ende Februar 1956 in Moskau stattfand, kritisierte Chruschtschow seinen bis dahin unantastbaren Amtsvorgänger Stalin.
In seiner Geheimrede, betitelt „Der Personenkult und seine Folgen“ machte er als Erster den Generalissimus drei Jahre nach dessen Tod für „Massenverhaftungen, Machtmiss-brauch, Deportationen von Tausenden Menschen und Hinrichtungen ohne Gericht“ verantwortlich. Fraglich ist bis heute, ob die Spitzenpolitiker der Satellitenländer Moskaus zeitgleich über den genauen Parteitagsinhalt informiert wurden. Die damaligen Worte des tschechoslowakischen Bildungsministers Zdeněk Nejedlý sprechen eher dagegen:
„Im Februar fand der 20. Parteitag der KPdSU statt. Bei diesem wurde exakt analysiert und bewertet, was der Sozialismus alles in der Welt erreicht hat. In einer Resolution wurde der Leitgedanken des Parteitags formuliert: Es sei der Grundriss unserer Epoche, dass der Sozialismus den Rahmen eines Landes überschritten und sich als ein eigen-ständiges Weltsystem etabliert habe, während der Kapitalismus machtlos geblieben sei.“
Das präsentierte Nejedlý als wichtigste Botschaft des Moskauer 20. Parteitags für den weltweiten historischen Prozess. Gesendet wurden die Worte in einer Sonntags-betrachtung im Tschechoslowakischen Rundfunk nur wenige Tage nach der Zusammen-kunft der sowjetischen Kommunisten.
Tatsächlich führte Chruschtschows Politik nach diesem Parteitag ziemlich bald zu einer gewissen Entspannung sowohl innen- als auch außenpolitisch. Die allgemein als Ent-stalinisierung bezeichnete Tauwetterperiode weckte in einigen Ostblockländern große Hoffnungen. Dass sie nicht berechtigt waren, zeigte Nikita Sergejewitsch Chruschtschow noch im selben Jahr eindeutig: Im Oktober 1956 ließ er den Ungarischen Volksaufstand in zwei Wellen brutal niederwalzen. Unterstützung dafür fand er in den Sattelitenstaaten. Der Historiker Vladimír Nálevka:
„Nachdem die Russen über die Eröffnung einer zweiten massiven Intervention ent-schieden hatten, lud Chruschtschow die führenden Vertreter der Ostblockstaaten nach Moskau, um die Operation politisch zu untermauern. Antonín Novotný reiste in die sowjetische Hauptstadt mit dem Vorschlag, ein tschechoslowakisches Freiwilligenkorps zu bilden, das sich an dem Eingriff in Ungarn an der Seite der Sowjetarmee beteiligen würde.“
Novotnýs Angebot lehnte Chruschtschow zwar ab, doch er verlangte, die Grenze zwischen der ČSSR und Ungarn zu schließen. Die auf slowakischem Gebiet stationierten Streit-kräfte wurden in Alarmbereitschaft versetzt, und die offiziellen Stellen der ČSSR sprachen von einer Konterrevolution in Ungarn. Ihre Befürchtung, dass etwas Ähnliches auch im eigenen Land passieren könnte, bewegte die Machthaber hierzulande zu einer politischen Umkehr. So wurden zum Beispiel die in Vorbereitung befindlichen Pläne zur Freilassung politischer Gefangener gestoppt – obwohl die Häftlinge aus dem sowjetischen Gulag freigekommen waren.
Gleichzeitig aber wurde die tschechoslowakische Bevölkerung umgehend über Chruschtschows Aktivitäten auf außen- und innenpolitischer Bühne informiert – umso mehr noch bei seinen Besuchen in der Tschechoslowakei. Der erste fand im Juni 1957 statt. Eine seiner Stationen war die nordmährische Industriestadt Ostrava / Ostrau, wo der Sowjetpolitiker sein bevorzugtes Thema ansprach:
„Gibt es in der Welt reichere Länder als die Sowjetunion? Ja, leider gibt es sie. Heute sind sie da, doch morgen nicht mehr. Wir werden reicher sein. In der Industrie-produktion belegen wir gegenwärtig den zweiten Platz weltweit. Wir haben dabei hochentwickelte kapitalistische Länder hinter uns gelassen. Vor uns sind allein noch die USA, sie laufen uns aber nicht weg. Wir werden sie schon einholen.“
Die USA und zum Schluss die gesamte kapitalistische Welt erst einzuholen und später auch zu überholen – das war Chruschtschows Credo, mit dem er sich eine Zeitlang auch auf höheren internationalen Foren präsentierte. Doch nicht nur darum ging es dem Generalsekretär bei seinen Reisen. Die Welt stand tief im Zeichen des Kalten Kriegs, und die Uno-Vollversammlung war der richtige Ort für Chruschtschow, um gegen die ange-blichen Friedensstörer im Westen zu donnern. Seine Rede zu diesem Thema ist nicht im Tonarchiv des Tschechoslowakischen Rundfunks erhalten. Die folgende Hörprobe stammt aus dem Archiv von Radio Freies Europa, das damals die Programme des Prager Rundfunks in München aufzeichnete:
„Einige sprechen zwar vom Frieden, wollen aber in Wirklichkeit die Kohlen aus dem Zweiten Weltkrieg am Glimmen halten, um in einem passenden Moment einen neuen Kriegsbrand zu entfachen. Deswegen werden ständig neue Divisionen in West-deutschland geschaffen, und Bundeskanzler Adenauer verlangt Atomwaffen für seine Armee. Warum das alles? Bei der Beibehaltung all dessen, worüber Westdeutschland heutzutage verfügt, sind weder eine große Armee noch Atomwaffen nötig. Dort gibt es allerdings Kräfte, die sich die Finger danach lecken, was ihnen nicht gehört, und sich auch nicht mit den bestehenden Staatsgrenzen abfinden können. Was würde es bedeuten, die Grenzen zu ändern? Einen Krieg – einen Atomkrieg!“
In der Tschechoslowakei hatte man aber auch die Gelegenheit, den Weltpolitiker Chruschtschow aus unmittelbarer Nähe kennenzulernen – und zwar als Landwirt-schaftsexperten. Bei seinem Besuch in der Landwirtschaftlichen Produktionsgesellschaft in Bušovice 1957 stellte er den Landwirten viele Fragen und hatte selbst fachgerechte Ratschläge parat. Zum Beispiel, wie man nach sowjetischem Vorbild Kartoffeln anbaut:
Nicht in Reihen wie hierzulande, sondern in quadratischen Nestern von 70 auf 70 Zentimetern würde in seiner Heimat angebaut, so Chruschtschow. Den Hektarertrag von 200 bis 248 Doppelzentnern Kartoffeln in Bušovice bewertete Nikita Sergejewitsch mit „Eto charascho“ (Das ist gut).
Im Kuhstall interessierte er sich dafür, wie oft am Tag die Kühe gemolken würden. In der Sowjetunion sei man aktuell vom System von vier zu zwei Melkterminen übergangen. Auch hier fehlte es nicht an fachlicher Beratung durch den Kreml-Chef.
Die Kuh müsse man an bestimmter Stelle anbinden, damit ihr Kot genau in den Abfuhrkanal falle – und dank der Vollmechanisierung könne man dann die manuelle Bodenreinigung reduzieren.
Am 3. und 4. Juni 1961 fand in Wien das Gipfeltreffen statt zwischen dem US-amerikanischen Präsidenten John Kennedy und Nikita Chruschtschow. Der sowjetische Partei- und Staatschef reiste mit dem Zug über die Tschechoslowakei an. Am ost-slowakischen Grenzübergang Čierna nad Tisou machte er bereits kurz Station und wurde bombastisch begrüßt. Ähnlich war es während seiner ganzen Zugfahrt quer durch die Slowakei bis nach Bratislava.
Am Bahnhof in Bratislava wurde Chruschtschow höchstpersönlich von Staatspräsident Antonín Novotný begrüßt, der den Gast die volle Unterstützung der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik für seine Friedensbemühungen in Wien zusicherte.
Im Herbst 1962 entsandte Chruschtschow auf Schiffen getarnte Mittelstreckenraketen nach Kuba, was eine ernsthafte Krise zwischen Washington und Moskau auslöste. Nach 13 Tagen, in denen die Welt am Rande eines neuen Kriegs stand, lenkte Chruschtschow ein. Genau zwei Jahre später war sein politisches Schicksal besiegelt. Das sowjetische Polit-büro soll während Chruschtschows Aufenthalts in der Tschechoslowakei den Entschluss gefasst haben, ihn abzusetzen. Ende August 1964 nahm er in Banská Bystrica an den Feierlichkeiten zum 20. Jubiläum des Slowakischen Nationalaufstandes teil. Im Oktober musste er auf Druck der Parteispitze „aus Gesundheitsgründen“ aus seinen Ämtern scheiden.
Antonín Novotný warf dem neuen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew vor, Chruschtschow von der Politszene „abgeschossen zu haben“, doch das verzieh ihm der Sowjetführer nie. Aber erst mit Beginn des politischen Tauwetters 1968 in der ČSSR waren auch Novotnýs Tage definitiv gezählt. Im Januar 1968 wurde er zum Rücktritt als Parteichef und im März auch zum Rücktritt als Präsident gezwungen.
Quellen: radio.cz vom 03.05.2014
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