Proteste in Brasilien: Mit Pfeil und Bogen gegen die Polizei – Kämpfen statt Kuschen (Videos)

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Brasiliens Metropole Rio de Janeiro ist die Finalstadt der WM, ihre Bürger leiden unter Korruption und ausufernder Polizeigewalt. Die Protestbewegung „Mein Rio“ wehrt sich, mit E-Mail-Attacken und Webcam-Überwachung.

Rafael Rezende sitzt in einem strandnahen Büro in Rio de Janeiro, schreibt E-Mails und schlingt eine Teigtasche mit Hühnchenfleisch hinunter. Der 20-Jährige muss sich beeilen, denn es könnte mal wieder um Leben und Tod gehen. Rezende, schwarzer Wuschelkopf, runde Brille, studiert Kommunikation an der Universidade Federal do Rio de Janeiro, aber das ist zurzeit nur ein Nebenjob. Mit etwas Glück kann er am Abend noch ein bisschen an seiner Seminararbeit schreiben.

Rezende ist einer von 15 Projektkoordinatoren der Protestbewegung „Meu Rio“ (Mein Rio). Das Netzwerk wurde 2011 mit Blick auf die Fußball-WM und die Olympischen Spiele 2016 von zwei brasilianischen Studenten gegründet, um öffentlichkeitswirksam gegen die Missstände zu kämpfen, die es in der Stadt und im ganzen Land gibt – Geld-verschwendung und Korruption zum Beispiel; ein marodes Kanalisationssystem; Behördenwillkür; eskalierende Polizeigewalt, die schon viele Unschuldige das Leben kostete.

Vor wenigen Stunden hat sich bei Meu Rio ein junger Mann gemeldet, um den sich Rezende nun kümmern muss. Es handelt sich um einen 26-jährigen DJ aus Rios Favela-Komplex Cantagalo-Pavão-Pavãozinho, der vor einigen Tagen in eine Kontrolle der schwerbewaffneten Spezialkräfte der Unidade de Polícia Pacificadora (UPP) geriet. Die UPP-Leute beschimpften ihn und gaben einen Warnschuss in seine Richtung ab. Seitdem fürchtet der Mann um sein Leben – eine Angst, die nicht unberechtigt ist.

Wegen der anstehenden Sport-Großereignisse versucht die Stadtverwaltung, die zentrumsnahen Problemviertel mit aller Macht von Drogenbossen und bewaffneten Banden zu befreien. Dabei wurden auch unbescholtene Bürger erschossen, die nichts Unrechtes getan hatten. Vor einigen Wochen erwischte es unter anderen einen bekannten Berufstänzer, mit dem der DJ befreundet war.

Nach den tödlichen Schüssen auf den Tänzer brachen im Stadtviertel Copacabana Straßenschlachten aus. Das hatte allerdings den Effekt, dass die UPP noch brutaler und unberechenbarer wurde. „Die UPP bringt den Favelas keinen Frieden, sie bringt nur Krieg“, sagt Rezende.

Geld für Shopping-Center statt für Schulen

Um den Mann zu schützen, der sich nun bei Meu Rio gemeldet hat, tut Rezende das, was er in ähnlichen Fällen immer tut: Er organisiert eine Online-Kampagne. So viele Menschen wie möglich sollen eine E-Mail an den Sicherheitschef Rio de Janeiros schreiben und ihn auffordern, den DJ in Ruhe zu lassen. „Pressure Cooker“, Dampf-drucktopf, nennen sie bei Meu Rio dieses Werkzeug, mit dem die Aktivisten auf Entscheidungsträger einwirken wollen. Manchmal ist das erfolgreich.

So trug Meu Rio durch eine ähnliche Aktion dazu bei, die Schließung einer bekannten Volksschule zu verhindern. Politiker wollten die Grundschule, die neben Rios frisch renoviertem Maracanã-Stadion steht, vergangenes Jahr abreißen. Neben der Arena, in der das WM-Finale stattfinden wird, sollte Platz geschaffen werden für Parkplätze und Shopping-Center. Meu Rio stellte eine Videokamera vor die Lehranstalt und verknüpfte sie online mit 2000 Aufpassern, die fortan über das Wohl der Schule wachten.

Rezende sagt, er habe nichts gegen die Fußball-WM. Er habe etwas gegen Verschwendung von Geldern, die eigentlich für andere Dinge gebraucht würden. Überall im Land gehen derzeit Tausende Brasilianer auf die Straße, um für das zu kämpfen, was wirklich wichtig ist für die Menschen: Bildung, Infrastruktur, ein intaktes Gesundheitssystem.

Die Weltmeisterschaft in Brasilien kostet mehr als jene in Deutschland 2006 und Südafrika 2010 zusammen – über elf Milliarden Euro. „Aber für Schulen ist kein Geld da. Wie kann das sein?“, fragt Rezende.

Eine Abwasserentsorgung wie im Mittelalter

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Weil sich viele Menschen die gleichen Fragen stellen, zählt Meu Rio inzwischen 140.000 Mitglieder, darunter Tausende Hochschüler. Der Kern des Teams hat im Meu-Rio-Büro in Ipanema riesige Tabellen an die Wände gehängt, daneben bunte Klebezettel, auf denen in dicken Filzstiftlettern jedes Detail zu einem Projekt aufgelistet ist.

Rezende hat in den vergangenen Monaten 40 Stunden pro Woche für Meu Rio gearbeitet. Er bekommt dafür monatlich 2300 Reais aus einem Spendentopf, umgerechnet rund 744 Euro – das ist das Dreifache des Mindestlohns in Brasilien. Er mache den Job aber nicht des Geldes wegen, sagt er. Es sei der Wunsch nach einem besseren Rio, der ihn antreibe. Die Stadt habe zum Beispiel eine Abwasserentsorgung, die so schlecht sei wie im Mittelalter.

Etwa 30 Prozent der Haushalte der Sechs-Millionen-Metropole sind nicht mit der Kanalisation verbunden. Lediglich ein Drittel des Schmutzwassers, das nur wenige Kilometer vor Rios Traumstränden ins Meer fließt, wird gereinigt. Der Guanabara Bay, in dem zu den Olympischen Spielen 2016 Segel- und Schwimmwettbewerbe stattfinden sollen, ist Rios größte öffentliche Toilette. Überall riecht es nach Fäkalien, im Wasser schwimmen alte Fernseher, am Ufer türmt sich der Hausmüll. „Es ist eine Schande für diese eigentlich großartige Stadt“, sagt Rezende.

Über 200 Meu-Rio-Aktivisten wehrten sich Anfang dieses Jahres mit einem drei-monatigen Großprojekt gegen die katastrophale Abwasserentsorgung. Sie stellten am weltbekannten Strand von Ipanema etliche Toiletten auf und ließen 70 Schiffe mit riesigen Spruchbändern medienwirksam über den Guanabara Bay schippern.

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Ausländische Fernsehsender wie die britische BBC und der US-Sender CNN kamen nach Rio und berichteten.

250.000 leben in Hütten aus Brettern und Blechkanistern

Die Stadtoberen reagierten bislang nur mit Übergangslösungen. Sie schickten ein paar Entsorgerboote in den Guanabara Bay, um den gröbsten Dreck abzuschöpfen.

„Lächerlich“ nennt das Rezende. Der Plan der Regierung, bis zum Olympiastart fast nur aufbereitetes Schmutzwasser in Rios Buchten zu pumpen, werde nicht aufgehen, befürchtet er.

Angesichts der Lage in der Favela Rocinha ist der verdreckte Guanabara Bay allerdings nur ein kleines Übel. Denn hier, in Rios größtem Armutsviertel, wo schätzungsweise 250.000 Menschen auf engstem Raum leben und die Hütten aus Steinen, Brettern und Blechkanistern gezimmert sind, gibt es kaum eine funktionierende Kanalisation. „Die Scheiße landet neben den Häusern“, erzählt ein Anwohner. Starker Regen überschwemmt regelmäßig die engen Gassen. Ältere Menschen haben Angst, auf die Straße zu gehen, weil sie befürchten, auf dem Abwasserschlamm auszurutschen.

Rezende sagt, Rocinha sei das schwierigste Projekt von allen. Regierung und Stadtver-waltung sehen das offenbar anders. Statt in die Kanalisation wollen sie 1,6 Milliarden Reais, etwa 500 Millionen Euro, vor allem in den Bau einer Seilbahn investieren.

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Mit Pfeil und Bogen

Sie trugen traditionellen Kopfschmuck, schossen mit Pfeil und Bogen: In Brasiliens Hauptstadt Brasília haben Ureinwohner gegen die Fußball-Weltmeisterschaft protestiert. Die Polizei setzte Tränengas ein, der WM-Pokal wurde in Sicherheit gebracht.

Bei Protesten von WM-Gegnern und einer indigenen Volksgruppe ist es in der brasilianischen Hauptstadt Brasília zu Ausschreitungen gekommen. Die Polizei setzte Tränengasgranaten ein, als sich die Demonstranten am Dienstag einem Stadion näherten. Ab Juni sollen dort mehrere Spiele der Fußball-Weltmeisterschaft ausgetragen werden.

Einige Demonstranten schleuderten als Reaktion auf den Polizeieinsatz Gaskanister, Steine und Holzstücke auf die Beamten. Andere schossen mit Pfeil und Bogen. Eines der Geschosse durchbohrte das Bein eines Polizisten. Er muss sich nun nach Behörden-angaben operieren lassen. Zudem seien zwei Ureinwohner verletzt worden, teilte eine Aktivistengruppe der Zeitung Globo mit. Wie es zu ihren Verletzungen kam, war zunächst nicht bekannt.

Videos:

Die Ureinwohner protestierten in erster Linie gegen geplante Gesetze, die eine Verkleinerung ihrer Reservate vorsehen. Den rund 300 Aktivisten schlossen sich jedoch weit über 1.000 WM-Gegner an. Sie gingen aus Protest gegen die hohen Kosten der Sportveranstaltung auf die Straße. Immer wieder gab es in den vergangenen Wochen teils gewalttätige Proteste. Die Demonstranten werfen der Regierung vor, viel Geld in Prestigeprojekte zu stecken und wichtige andere Aufgaben zu vernachlässigen. An der Kundgebung am Dienstag beteiligten sich zahlreiche Obdachlose, Ältere und Kinder.

Wegen der Demonstration wurde die Ausstellung des WM-Pokals, der zurzeit in Brasília ist, aus Sicherheitsgründen unterbrochen. Die Polizei war auch mit berittenen Einheiten im Einsatz. Eine zentrale Straße wurde stundenlang blockiert. Es kam zu langen Staus.

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Demonstranten blockieren Bus von Brasiliens WM-Team

Sie sind Freudentänze, Sambarhythmen und wehende Brasilien-Flaggen gewöhnt. Doch am Montag wurden die Spieler der brasilianischen Nationalmannschaft mit Protestschildern und wütendem Geschrei empfangen.

„Es wird keine WM geben“, riefen rund 200 Demonstranten, mehrheitlich Lehrer, die im Bundesstaat Rio de Janeiro seit rund zwei Wochen für 20 Prozent mehr Gehalt und weniger Wochenarbeitsstunden streiken. Einigen gelang es, die Parole auf den Mannschaftsbus zu kleben: „Não vai ter copa“. Auf Plakaten stand: „Wir brauchen Bildung, keine Stadien.“ Demonstranten schlugen mit Fäusten gegen das Fahrzeug und schrien: „Ihr könnt es ruhig glauben, Erzieher sind mehr wert als Neymar.“ Die Polizei versuchte die Menge abzudrängen, war jedoch in Unterzahl.

Video:

Quellen: PRAVDA TV/dpa/AP/ZeitOnline/SpiegelOnline vom 30.05.2014

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10 comments on “Proteste in Brasilien: Mit Pfeil und Bogen gegen die Polizei – Kämpfen statt Kuschen (Videos)

  1. Dumme Menschen tun eben Dummes! Meistens ohne Gefühl für andere Menschen. So wie hier in Rio. 140.000 haben sich zusammengeschlossen für bessere Umstände in ihrer Stadt und die millionen von Fußballfans werden dies zu verhindern wissen! Warum? Weil sie mit ihrem Geld die Korruption aufrecht erhalten!
    So dumm sind wir Alle! Banken halten uns mit Geld im Sklaventum! Nix kapiert noch? Schön dumm! Na dann wart mal ab, bis Du dabei sein wirst, bei der nächsten Demo in Deutschland od. Österreich od Schweiz od. Frankreich od. Italien od. …………….
    Schaut euch um, informiert euch! Was kann ich tun um diesen Geldsystem ein Ende zu bereiten! Dieses System ist GEGEN uns!! Es gibt Alternativen! Alles klar Fr. Merkel?!

  2. Hat dies auf Ohne Armut Leben rebloggt und kommentierte:
    Ich hab keinen Bock mehr mir dieses Masenspektakel zu geben, weil ich weiß, daß es doch nur unserer Ablenkung gilt. Ablenkung von den Misständen unserer Zeit und Gesellschaft. Boykott Fußball WM!!!

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