Trotz Warnungen aus der Wissenschaft: Die Regierung Kanads verkauft eines der letzten Rückzugsgebiete der bedrohten Karibus – an die Ölindustrie.
Rentiere gelten in Kanada als nationale Ikonen: Die Huftiere mit ihren schmuckvollen Geweihen und zotteligen Fellen sind Symbole für die raue Natur und unberührte Wildnis des Landes. Sie haben die Eiszeit überlebt und streifen seit mehr als einer Millionen Jahre durch die Wälder und Tundren des nordamerikanischen Kontinents. Doch der Lebensraum der kanadischen Rentiere schrumpft dramatisch, seit die Rohstoff- und Erdölindustrie immer tiefer in ihre Heimat vordringt.
Zuletzt schlug die kanadische Artenschutzbehörde vor kurzem Alarm und setzte die gefährdeten Rentier-Gattungen auf die Liste der vom Aussterben bedrohten Arten. Doch der Ausverkauf der letzten Rentier-Refugien in Kanada geht trotzdem weiter: Nur wenige Tage nach dem alarmierenden Bericht der staatlichen Wissenschaftler begann die Regierung der Erdölprovinz Alberta am Mittwoch, die Rückzugsgebiete zweier besonders bedrohter Herden im Norden der Provinz an die Industrie zu versteigern, auf einer Fläche von knapp 2000 Hektar.
Naturschützer sind empört. Man werde die Rentiere nur vor dem Aussterben bewahren können, wenn die Regierung die Vergabe von Lizenzen an die Industrie einstelle, kritisierte die Biologin Justina Ray, die den Bericht der Artenschutzbehörde mit verfasst hatte. Die Regierung dagegen verteidigte die Auktion und verwies an Auflagen, welche die Tiere angeblich schützen sollen.
Bei der Kontroverse geht es um zwei Herden, die nördlich der Stadt Grande Cache in den Rocky Mountains leben, in einer Region, die von der Rohstoffindustrie dominiert wird. Die zwei Herden bestehen aus nur noch 178 Tieren und gehören zur Gattung der so genannten Bergkaribus – einer der gefährdetsten Rentier-Arten in Kanada. Von den vielen Tausend Tieren, die einst durch die Bergregionen Albertas streiften, sind heute nur rund 500 übrig, in den USA sind sie schon ganz ausgestorben.
Rettungsplan für die Rentiere
Umweltschützer machen die Forstwirtschaft, Minengesellschaften und die Öl- und Gasindustrie verantwortlich, ganz besonders die Ölsand-Konzerne, die im Norden der Provinz Alberta riesige Schaufelradbagger durch die Wälder pflügen lassen. „Der ungebremste Rohstoffabbau ist das größte Problem“, ist Simon Dyer von der Umwelt-gruppe Pembina-Institut überzeugt. Denn die Rentiere finden immer weniger Nahrung: Sie leben von Flechten, die nur in älteren Wäldern vorkommen.
Eine Deckelung neuer Rohstofflinzenzen, eine Verschärfung von Auflagen für die Industrie, Aufforstung oder die Schaffung neuer Schutzgebiete wurde bislang nicht erreicht. Zwar hat die Provinz Alberta die Vergabe von Bohrlizenzen in einigen Regionen vorübergehend eingeschränkt und die Bundesregierung in Ottawa hat einen Rettungsplan für die Rentiere erstellt.
Mit der Umsetzung hapert es allerdings – und das schon seit Jahrzehnten. Denn für die Durchsetzung der Schutzgesetze sind die regionalen Behörden vor Ort zuständig. Besonders in Alberta ist der Einfluss der Ölindustrie so stark, dass die Stimmen der Naturschützer nur wenig Gehör finden.
Quelle: taz.de vom 16.05.2014
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